Stefan Zweig - Gesammelte Werke
mächtiger sein wird unter den Menschen als die brüderliche Güte. Sein Antlitz wurde – so erzählen die Zeugen – ernst in diesem Augenblick. Er nahm das Blatt und ging damit nachdenklich in sein Zimmer, eine Schwinge der Ahnung kühl um das alternde Haupt.
Der Kampf um Verwirklichung
Es ist leichter, zehn Bände Philosophie zu schreiben, als einen einzigen Grundsatz in der Praxis durchzuführen.
Tagebuch 1847
I m Evangelium, das Leo Tolstoi in jenen Jahren so beharrlich durchblättert, wird er nicht ohne Erschütterung das prophetische Wort gelesen haben: »Wer Wind sät, wird Sturm ernten«, denn dies Schicksal erfüllt sich nun in seinem eigenen Leben. Niemals wirft ohne Sühne ein einziger Mensch, und am wenigsten ein gewaltiger, seine geistige Unruhe in die Welt: tausendfältig schwillt im Rückstoß der Aufruhr wider die eigene Brust. Heute, da längst die Diskussion ausgekühlt ist, vermögen wir gar nicht mehr zu ermessen, welche fanatische Erwartung im ersten Anruf die Botschaft Tolstois in der russischen und darüberhin in der ganzen Welt entzündete: ein Seelenaufruhr muß es gewesen sein, gewaltsame Erweckung eines ganzen Volksgewissens. Vergebens, daß die Regierung, von solch umstürzender Wirkung erschreckt, die polemischen Schriften Tolstois hastig verbietet, in Schreibmaschinenkopien schleichen sie von Hand zu Hand, sie werden eingeschmuggelt dank ausländischer Ausgaben; und je kühner Tolstoi die Elemente der bisherigen Ordnung, den Staat, den Zaren, die Kirche angreift, je glühender er eine bessere Weltordnung für die Mitmenschheit postuliert, um so strömender wendet sich das jeder Heilsbotschaft offene Herz der Menschheit ihm entgegen. Denn trotz Eisenbahn, Radio und Telegraph, trotz Mikroskop und aller technischen Magie hat unsere sittliche Welt sich genau dieselbe messianische Erwartung eines höheren moralischen Zustandes bewahrt wie in den Tagen Christi, Mohammeds oder Buddhas; unaustilgbar lebt und bebt in der ewig wunderwilligen Massenseele eine immer wieder erneute Sehnsucht nach einem Führer und Lehrer. Immer darum, wenn ein Mensch, ein einzelner, sich mit einer Verheißung an die Menschheit wendet, rührt er an den Nerv dieser Glaubenssehnsüchtigkeit, und eine unendliche aufgestaute Opferbereitschaft pocht jedem entgegen, der den Mut auf sich nimmt, aufzustehen und das verantwortlichste Wort zu wagen: »Ich weiß um die Wahrheit.«
So wenden sich aus ganz Rußland Millionen Seelenblicke zu Ende des Jahrhunderts Tolstoi entgegen, kaum daß er seine apostolische Botschaft ankündigt. Die »Beichte«, für uns längst bloß noch ein psychologisches Dokument, berauscht die gläubige Jugend wie eine Verkündigung. Endlich, so jubeln sie, hat einmal ein Gewaltiger und Freier und überdies der größte Dichter Rußlands als Forderung ausgesprochen, was bisher nur die Enterbten klagten, die halb Leibeigenen heimlich flüsterten: daß die gegenwärtige Ordnung der Welt ungerecht, unmoralisch und darum unhaltbar sei und eine neue, bessere Form gefunden werden müsse. Ein unverhoffter Impuls ist allen Unzufriedenen geworden, und zwar nicht von einem der professionellen Fortschrittsphraseure, sondern von einem unabhängigen und unbestechlichen Geiste, dessen Autorität und Ehrlichkeit niemand zu bezweifeln wagt. Mit seinem eigenen Leben, mit jeder Handlung seines offensichtlichen Daseins will, so hören sie, dieser Mann beispielgebend vorausgehen, er will als Graf seine Vorrechte, als reicher Mann sein Eigentum lassen und als erster der Besitzenden und Großen demütig sich einordnen in die unterschiedslose Werkgemeinschaft des arbeitenden Volkes. Bis zu den Ungebildeten, zu den Bauern und Analphabeten wandert die Botschaft von dem neuen Heiland der Enterbten, schon scharen sich die ersten Jünger zusammen, die Sekte der Tolstoianer beginnt buchstabengläubig ihres Lehrers Wort zu erfüllen, und hinter ihnen erwacht und wartet die unübersehbare Masse der Bedrückten. So glühen Millionen Herzen, Millionen Blicke Tolstoi, dem Verkünder entgegen und blicken gierig auf jeden Akt, jede Tat seines weltbedeutsam gewordenen Lebens. »Doch dieser hat gelernt, er wird uns lehren.«
Aber sonderbar, Tolstoi scheint ursprünglich gar nicht wahrzunehmen, welche Wucht von Verantwortung er sich zulastet. Selbstverständlich ist er klarsichtig genug, um zu empfinden, daß man eine solche Lebenslehre als Verkünder nicht nur in kalten Lettern auf dem Papier stehenlassen, sondern beispielhaft
Weitere Kostenlose Bücher