Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Lehre wortwörtlich und nicht nur in symbolischen Gelegenheitsbeispielen zu erfüllen.
Aufgeschreckt durch diesen Anruf, erkennt Tolstoi endlich selbst, welch ungeheuren Anspruch er herausgefordert, und daß kein Diktum, sondern nur ein Faktum, nicht agitatorische Exempel, sondern nur vollkommene Umformung der Lebensführung seine Botschaft verlebendigen könne. Wer als Sprecher und Versprechender auf öffentlicher Tribüne steht, auf der höchsten des neunzehnten Jahrhunderts, erhellt vom grellen Scheinwerferlicht des Ruhms, überwacht von Millionen Augenpaaren, der muß auf alles private und konziliante Leben endgültig Verzicht leisten, der darf seine Gesinnung nicht bloß gelegentlich andeuten durch Symbole, sondern braucht als gültigen Zeugen die wirkliche Opfertat: »Um von den Menschen gehört zu werden, muß man die Wahrheit durch Leiden erhärten, noch besser durch den Tod.« So wächst Tolstoi für sein persönliches Dasein eine Verpflichtung entgegen, die der apostolische Doktrinär niemals geahnt. Mit Schauern, verstört, seiner Kraft nicht gewiß, bis in die unterste Seelentiefe verängstigt, nimmt Tolstoi das Kreuz auf sich, das er sich mit seiner Lehre aufgeladen, nämlich von nun an mit jeder Handlung seines Daseins restlos seine sittlichen Forderungen zu verbildlichen und inmitten einer spottfreudigen und geschwätzigen Welt ein heiliger Diener seiner religiösen Überzeugung zu sein.
Ein Heiliger: das Wort ist ausgesprochen, aller lächelnden Ironie zu Trotz. Denn gewiß scheint zunächst der Heilige in unserer ernüchterten Zeit vollkommen absurd und unmöglich, ein Anachronismus verschollenen Mittelalters. Aber nur die Embleme und die kultische Umschalung eines jeden seelischen Typs unterliegen der Vergängnis; jeder Typus selbst kehrt folgerichtig und zwanghaft immer wieder zurück in jenem unabsehbaren Spiel der Analogien, das wir Geschichte nennen. Immer und in jeder Epoche werden Menschen ein heiliges Dasein versuchen müssen, weil das religiöse Gefühl der Menschheit diese höchste Seelenform immer wieder neu benötigt und erschafft; nur wird ihre Vollführung sich äußerlich wandeln müssen am Wandel der Zeit. Unser Begriff von der Durchheiligung des Daseins kraft geistiger Inbrunst hat nichts mehr zu tun mit den holzschnitthaften Figuren der Legenda aurea und der Säulenstarre der Wüstenväter, denn wir haben die Gestalt des Heiligen längst abgelöst von dem Spruch theologischer Konzile und päpstlicher Konklaven – »heilig« bedeutet für uns heute einzig heroisch im Sinne der vollkommenen Hingabe des Daseins an eine religiös durchlebte Idee. Nicht um einen Zollstrich dünkt uns die intellektuelle Ekstase, die weltverleugnende Einsamkeit des Gott-Töters von Sils-Maria oder die erschütternde Bedürfnislosigkeit des Diamantschleifers von Amsterdam geringer, als die Ekstase eines fanatischen Dornengeißlers; selbst jenseits alles Wundertums, bei Schreibmaschine und elektrischem Licht, mitten in unseren querschnittigen, helligkeitserfüllten, menschendurchfluteten Städten ist der Geistheilige als der Blutzeuge des Gewissens auch heute noch möglich; nur tut es uns nicht mehr not, diese Wunderbaren und Seltenen als göttlich Unfehlbare und irdisch Unanfechtbare zu betrachten, sondern im Gegenteil: wir lieben diese großartigen Versucher, diese gefährlich Versuchten gerade in ihren Krisen und Kämpfen und am tiefsten nicht trotz, sondern eben in ihrer Fehlbarkeit. Denn unser Geschlecht will seine Heiligen nicht mehr als Gottesgesandte eines überirdischen Jenseits verehren, sondern gerade als die allerirdischsten unter den Menschen.
Darum ergreift bei dem ungeheuren Versuche Tolstois um die vorbildliche Form seines Lebens uns gerade am meisten sein Schwanken, und daß er in letzter Erfüllung menschlich versagt, scheint uns erschütternder, als sein Heiligsein uns gewesen wäre. Hic incipit tragoedia! Im Augenblicke, da Tolstoi die heroische Aufgabe unternimmt, aus den zeitlich konventionellen Lebensformen herauszutreten und nur die zeitlosen seines Gewissens zu verwirklichen, wird sein Leben notwendigerweise tragisches Schauspiel, größer als irgendeines, das wir seit Friedrich Nietzsches Empörung und Untergang gesehen. Denn eine solche gewaltsame Ablösung aus allen eingewachsenen Beziehungen der Familie, der Adelswelt, des Eigentums, der Zeitgesetze kann nie geschehen, ohne ein tausendgliedriges Nervengeflecht zu zerfetzen, ohne sich selbst und seine Nächsten auf das
Weitere Kostenlose Bücher