Stefan Zweig - Gesammelte Werke
von dem lange Verstörten gewichen ist, sammelt sich wieder der bildnerische Sinn. Wie Goethe, der Greis, gerade im letzten Abendlicht noch heimkehrt von wissenschaftlicher Zerstreuung zu seinem »Hauptgeschäft«, so wendet Tolstoi, der Prediger, der Moralist im unwahrscheinlichen Jahrzehnt zwischen dem siebzigsten und achtzigsten Jahre noch einmal sich der Kunst, der lange verleugneten, zu: noch einmal ersteht im neuen Jahrhundert der gewaltigste Dichter des vergangenen Jahrhunderts und ebenso herrlich wie einst. Den ungeheuren Bogen seines Daseins kühn überwölbend, besinnt der Greis ein Erlebnis seiner Kosakenjahre und entformt ihm das iliadische Gedicht »Hadschi Murat«, klirrend von Waffen und Krieg – eine Heldenlegende, einfach und groß erzählt wie in seinen vollkommensten Tagen. Die Tragödie vom »Lebenden Leichnam«, die meisterlichen Erzählungen »Nach dem Ball«, »Kornej Wasiljew« und viele kleine Legenden bezeugen glorreich die Rückkehr und Reinigung des Künstlers vom Unmut des Moralisten; nirgends ahnte man in diesen Spätwerken eines Greises zerfaltete, müdegeschriebene Hand: unbestechlich und unbeirrbar wägt der graue Blick des Uralten das ewig erschütternde Schicksal der Menschen. Der Richter des Daseins ist wieder Dichter geworden, und ehrfürchtig beugt sich in seinen wunderbaren Altersbekenntnissen der einst vermessene Lebenslehrer vor der Unerforschlichkeit des Göttlichen: die ungeduldige Neugier nach den letzten Lebensfragen mildert sich zu einem demütigen Lauschen in die immer näher rauschende Welle der Unendlichkeit. Er ist wahrhaft weise geworden, Leo Tolstoi, in den letzten Jahren seines Daseins, aber noch nicht müde; unablässig, ein urweltlicher Bauer, durchwerkt er, bis der Stift den erkaltenden Händen entsinkt, im Tagebuch den unerschöpflichen Acker der Gedanken.
Denn noch darf der Unermüdliche nicht ruhen, dem als Sinn vom Schicksal auferlegt ist, bis zum äußersten Augenblick um die Wahrheit zu ringen. Eine letzte, die heiligste Arbeit wartet noch der Vollendung, und sie gilt nicht mehr dem Leben, sondern seinem eigenen nahenden Tod; ihn würdig und vorbildlich zu gestalten, wird dieses gewaltigen Bildners letzte Lebensmühe sein, an sie wendet er großartig die gesammelte Kraft. An keinem seiner Kunstwerke hat Tolstoi so lange und leidenschaftlich geschaffen, wie an seinem eigenen Tod: als ein echter und ungenügsamer Künstler, will er gerade diese letzte und allermenschlichste seiner Taten rein und makellos der Menschheit übermitteln.
Dieses Ringen um einen reinen, einen lügenlosen, einen vollkommenen Tod wird die Entscheidungsschlacht im siebzigjährigen Kriege des Friedlosen um die Wahrhaftigkeit und gleichzeitig die opfervollste – denn sie geht gegen sein eigenes Blut. Eine letzte Tat ist noch zu vollbringen, der er sein Leben lang mit einer uns jetzt erst erklärbaren Scheu immer wieder ausgewichen: die endgültige und unwidersprechliche Loslösung von seinem Eigentum. Immer und immer, darin seinem Kutusow ähnlich, der die entscheidende Schlacht gern vermeiden will und in stetem strategischen Rückzug den furchtbaren Gegner zu besiegen hofft, war Tolstoi vor der endgültigen Verfügung über sein Vermögen zurückgeschreckt und vor seinem drängenden Gewissen in die »Weisheit des Nichthandelns« geflüchtet. Jeder Versuch, auf das Recht an seinen Werken auch über sein Leben hinaus zu verzichten, hatte den erbittertsten Widerstand der Familie gefunden, den mit einer brutalen Handlung gewaltsam zu überwinden er zu schwach und in Wahrheit zu menschlich war; so hatte er jahrelang sich beschränkt, persönlich kein Geld zu berühren und von seinen Einnahmen keinen Gebrauch zu machen. Aber – so klagt er sich selbst an – »diesem Ignorieren lag der Umstand zugrunde, daß ich prinzipiell alles Eigentum verneinte und aus falschem Schamgefühl vor den Menschen mich um mein Eigentum nicht kümmerte, damit man mich nicht der Inkonsequenz beschuldige«. Immer wieder, nach den verschiedensten fruchtlosen Versuchen, deren jeder eine Tragödie im engsten Kreise der Seinen zeitigt, schiebt er die klare und bindende Entscheidung über sein Vermächtnis von sich selbst weg und in einen unbestimmten Zeitpunkt hinaus. Aber 1908, im achtzigsten Jahre, da die Familie das Jubiläum zu einer mit reichlichem Kapital unternommenen Gesamtausgabe benutzt, ist es dem öffentlichen Feinde alles Eigentums nicht mehr möglich, tatenlos zu bleiben; im achtzigsten Jahre muß
Weitere Kostenlose Bücher