Stefan Zweig - Gesammelte Werke
verabschiedet ihn. Dann drängen Bettler heran, einer nach dem andern. Rasch fertigt Tolstoi sie mit einem Fünfkopekenstück ab, ungeduldig schon. Wie er sich umwendet, bemerkt er, daß der Journalist ihn während der Verteilung photographiert hat. Wieder verdüstert sich sein Gesicht: »So bilden sie mich ab, Tolstoi, den Gütigen, bei den Bauern, den Almosenspender, den edlen, hilfreichen Mann. Aber der mir ins Herz sehen könnte, der wüßte, ich war nie gut, ich versuchte bloß, das Gutsein zu lernen. Nichts als mein Ich hat mich wahrhaft beschäftigt. Ich war nie hilfreich, in meinem ganzen Leben habe ich nicht die Hälfte dessen an die Armen verschenkt, was ich früher in Moskau in einer einzigen Nacht bei den Karten verspielte. Nie ist es mir eingefallen, Dostojewski, von dem ich wußte, daß er hungerte, die zweihundert Rubel zu schicken, die ihn erlöst hätten für einen Monat oder vielleicht für immer. Und dennoch dulde ich, daß man mich feiert und rühmt als den edelsten Menschen, und weiß innen doch genau, daß ich erst im Anfang des Anfanges stehe.«
Es drängt ihn schon zu dem Spaziergang im Park, und so ungeduldig läuft das flinke alte Männchen mit dem flatternden Bart, daß die anderen kaum folgen können. Nein, jetzt nicht viel reden mehr: nur die Muskeln fühlen, die Geschmeidigkeit der Sehnen, ein wenig hinblicken auf das Tennisspiel der Töchter, die Unschuld des flinken körperlichen Spiels. Interessiert folgt er jeder Bewegung und lacht stolz bei jedem gelungenen Schlag, seine düstere Laune lockert sich auf, er plaudert und lacht, mit helleren beruhigteren Sinnen wandert er durch das weicher duftende Moos dahin. Aber dann wieder zurück in das Arbeitszimmer, ein wenig lesen, ein wenig ruhen: manchmal fühlt er sich schon recht müde, und die Beine werden ihm schwer. Wie er so allein liegt auf dem wachsledernen Sofa, die Augen geschlossen, und sich matt spürt und alt, denkt er im stillen: »Es ist doch gut so: wo ist die Zeit, die schreckliche, da ich mich noch vor dem Tode fürchtete wie vor einem Gespenst, mich vor ihm verstecken und verleugnen wollte. Jetzt habe ich keine Angst mehr, ja, ich fühle mich wohl, ihm so nahe zu sein.« Er lehnt sich zurück, die Gedanken schwärmen in der Stille. Manchmal zeichnet er mit dem Bleistift rasch ein Wort auf, dann bückt er lange und ernst vor sich hin. Und es ist schön, das Antlitz des alten Mannes, umwölkt von Sinnen und Traum, allein mit sich und mit seinen Gedanken.
Abends dann noch einmal hinab in den gesprächigen Kreis: ja, die Arbeit ist getan. Freund Goldenweiser, der Pianist, fragt, ob er etwas vorspielen dürfe. »Gern, gern!« Tolstoi lehnt am Klavier, die Hände über die Augen geschattet, damit niemand sehe, wie die Magie des verbundenen Klangs ihn ergreife. Er lauscht, die Lider geschlossen und tiefatmender Brust. Wunderbar, die Musik, die so laut verleugnete, wunderbar strömt sie ihm zu, alles Weiche auflockernd, sie macht nach all den schweren Gedanken die Seele wieder lind und gut. »Wie durfte ich sie schmähen, die Kunst«, denkt er still in sich hinein. »Wo ist Tröstung, wenn nicht bei ihr? Alles Denken verdüstert, alles Wissen verstört, und Gottes Gegenwart, wo anders fühlen wir sie deutlicher denn in des Künstlers Bild und Wort? Brüder seid ihr mir, Beethoven und Chopin, ich fühle eure Blicke jetzt ganz in mir ruhn, und der Menschheit Herz schlägt in mir auf: Verzeiht mir, ihr Brüder, daß ich euch schmähte.« Das Spiel endet mit einem hallenden Akkord, alle applaudieren, und Tolstoi nach einem kleinen Zögern gleichfalls. Alle Unrast in ihm ist genesen. Mit einem sanften Lachen tritt er in den versammelten Kreis und freut sich guten Gesprächs; endlich weht etwas wie Heiterkeit und Stille um ihn, der vielfältige Tag scheint vollkommen geendet.
Aber noch einmal, ehe er zu Bett geht, schreitet er hinein in sein Arbeitszimmer. Ehe der Tag endet, wird Tolstoi mit sich noch letztes Gericht halten, wird, wie immer, Rechenschaft von sich fordern für jede Stunde sowie für sein ganzes Leben. Aufgeschlagen liegt das Tagebuch, das Auge des Gewissens blickt ihn aus den leeren Blättern an. Tolstoi besinnt sich jeder Stunde des Tages und hält Gericht. Er gedenkt der Bauern, des selbstverschuldeten Elends, an dem er vorbeigeritten, ohne anders zu helfen als mit kleiner, erbärmlicher Münze. Er erinnert sich, ungeduldig gewesen zu sein mit den Bettlern, und der bösen Gedanken gegen seine Frau. All diese Schuld
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