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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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zeichnet er auf in sein Buch, das Buch der Anklage, und mit grimmigem Stift vermerkt er das Urteil »wieder träge gewesen, seelenlahm. Nicht genug Gutes getan! Noch immer habe ich nicht gelernt, das Schwere zu tun, die Menschen um mich zu lieben statt der Menschheit: hilf mir, Gott, hilf mir!«
    Dann noch das Datum des nächsten Tages und das geheimnisvolle »W. i. l.«, Wenn ich lebe. Nun ist das Werk vollbracht, wieder ein Tag zu Ende gelebt. Gedrückter Schulter geht er hinüber ins Nachbarzimmer, der alte Mann, legt die Bluse, die klotzigen Stiefel ab und wirft den Leib nieder, den schweren Leib ins Bett und denkt, wie immer, zuerst an den Tod. Noch flügeln Gedanken, die farbigen Falter, unruhig über ihn hin, aber mählich verlieren sie sich wie Schmetterlinge im Walde immer tieferen Dunkels. Schon mattet der Schlummer ganz nah nieder…
    Da plötzlich – er schreckt auf –, war das nicht ein Schritt? Ja, er hört einen Schritt nebenan, leise und schleicherisch, einen Schritt im Arbeitszimmer, und schon springt er auf, lautlos, halbnackt, und preßt die brennenden Augen an das Schlüsselloch. Ja, es ist Licht im Nachbarzimmer, jemand ist mit einer Lampe hineingetreten und wühlt in seinem Schreibtisch, blättert im geheimsten Tagebuch, um die Worte zu lesen, die Zwiesprache seines Gewissens: Sophia Andrejwna, seine Frau. Auch in seinem letzten Geheimnis belauert sie ihn, nicht mit Gott selbst lassen sie ihn allein; überall, überall in seinem Hause, in seinem Leben, in seiner Seele ist er umstellt von der Gier und der Neugier der Menschen. Seine Hände zittern vor Wut, schon greift er an die Klinke, die Türe plötzlich aufzureißen und loszufahren auf die eigene Frau, die ihn verraten. Aber im letzten Augenblick bezähmt er seinen Zorn: »Vielleicht ist auch dies mir als Prüfung auferlegt.« So schleppt er sich wieder zurück auf das Lager, stumm, ohne Atem, wie in einen ausgeronnenen Brunnen in sich selber hinablauschend. Und so liegt er noch lange wach, Leo Nikolajewitsch Tolstoi, der größte und mächtigste Mann seiner Zeit, verraten in seinem eigenen Hause, zerquält von Zweifeln und frierend vor Einsamkeit.

Entscheidung und Verklärung
    Um an die Unsterblichkeit zu glauben, muß man hier ein unsterbliches Leben leben.
    Tagebuch, 6. März 1896
     
    1 900. Als Zweiundsiebzigjähriger hat Leo Tolstoi die Schwelle des Jahrhunderts überschritten. Aufrecht im Geiste und doch schon legendarische Gestalt geht der heroische Greis seiner Vollendung entgegen. Milder als vordem leuchtet das Antlitz des alten Weltwanderers aus dem verschneiten Bart und wie durchscheinendes Pergament, überschrieben mit zahllosen Runzeln und Runen, die mählich gilbende Haut. Ein ergeben geduldiges Lächeln nistet jetzt gern um die beschwichtigte Lippe, seltener bäumt sich die buschige Braue im Zorn, nachsichtiger und abgeklärter mutet er an, der alte zornige Adam. »Wie gütig er geworden ist!« staunt der eigene Bruder, der ihn ein Leben lang immer nur als Aufbrausenden und Unbezähmbaren gekannt, und wirklich, die starke Leidenschaft beginnt abzuklingen, er hat sich müde gerungen und müde gequält: ein neuer Glanz von Güte übersonnt sein Antlitz im letzten Abendlicht. Ergreifend, nun das einstmals so düstere zu betrachten: es ist, als hätte die Natur achtzig Jahre lang nur deshalb so gewaltsam darin gewirkt, damit endlich in dieser letzten Form seine eigenste Schönheit offenbar werde, die große, wissende und verzeihende Hoheit des Greises. Und in dieser verklärten Gestalt nimmt die Menschheit Tolstois äußere Erscheinung in ihr Gedächtnis. So werden Geschlechter und Geschlechter noch ehrfürchtig sein ernstes und ruhendes Antlitz in der Seele bewahren.
    Erst das Alter, das sonst das Bildnis heroischer Menschen mindert und zerstückt, gibt seinem verdüsterten Gesicht vollkommene Majestät. Härte ist Hoheit geworden, Leidenschaft zu Güte und allbrüderlichem Begreifen. Und wirklich, nur Frieden will der alte Kämpfer, »Frieden mit Gott und den Menschen«, Frieden auch mit seinem bittersten Feind, mit dem Tod. Vorbei ist, gnädig vergangen die grause, die panische, die tierische Angst vor dem Sterben, beruhigten Blicks, in guter Bereitschaft sieht der uralte Mann der nahen Vergängnis entgegen. »Ich denke daran, daß es möglich sei, daß ich morgen nicht mehr leben werde, jeden Tag suche ich mich diesem Gedanken vertrauter zu machen und gewöhne mich immer mehr an ihn.« Und wunderbar: seit dieser Angstkrampf

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