Stefan Zweig - Gesammelte Werke
befeuert… ich weiß den Weg, nachbarlich geht er dem Tode wie der deine… doch ich will ihn gehen für Jerusalem… lebe wohl, Meister… ich will würdig sein deines Rufes, lebe wohl.
JEREMIAS:
Wohin willst du?
BARUCH:
Lebe wohl, Meister… lebe wohl und segne mich, wenn ichs vollbringe, und fluche mir nicht, so ichs versäume… lebe wohl… lebe wohl… es gilt Jerusalem…
(BARUCH schwingt sich zur Mauer und beginnt hinabzuklettern.)
JEREMIAS:
Was willst du an der Mauer… Baruch… wohin…
BARUCH:
Deinen Weg… lebe wohl… lebe wohl…
(BARUCH verschwindet jenseits der Mauer.)
JEREMIAS (sich über die Mauer beugend):
Baruch, wohin gehest du… halt ein… sie werden dich fassen… die Späher Chaldäas sind schon rege um die Wege… Baruch… Baruch… Was fliehst du von mir… Was lässest du mich allein… Baruch… Baruch… bleib bei mir in dieser Stunde…
DER ERSTE KRIEGER (ist herbeigeeilt):
Was rufst du da… was schreist du in die Nacht…
JEREMIAS (sich aufrichtend):
Ich rufe… ich rufe, und doch hört keiner auf mich…
DER ERSTE KRIEGER:
Was geht hier vor? Was treibst du noch da? Mir war, als glitte ein Schatten die Mauer hinab. Ist einer mit dir?
JEREMIAS:
Keiner ist mit mir… keiner ist mehr mit mir…
(JEREMIAS geht langsam, mit schwerem Schritt, von der Mauer stadtwärts hinab. Der Krieger sieht ihm starr nach, bis er im Schatten der Mauer verschwindet, dann rafft er sich auf und schreitet im harten Mondlicht schweigend auf und ab. Es ist ganz still, nur sein schwerer Schritt hallt über die mondblanken Quadern, und von ferne tönt aus dem Unsichtbaren heranklingend wieder der Wachtruf: »Simson über sie«… »Simson über sie« durch die weiße Nacht…)
V. Die Prüfung des Profeten
»Doch der Herr wollte ihn mit Leiden zermalmen.«
Jes. LIII.
Das enge Schlafgemach der Mutter Jeremias in seinem Hause. Die Türen des schmalen Raumes sind mit Vorhängen überhängt, ebenso die Fenster, so daß Licht und alle Laute nur gedämpft von außen in die Düsterheit der Stube dringen und kaum mehr als der Umriß der Gestalten und Dinge wahrnehmbar wird. Im Hintergrunde glänzt weiß aus der Dunkelheit das breite bettartige Pfühl, auf dem die alte Frau regungslos liegt. Neben ihr aufrecht stehend ACHAB, der alte Diener.
JOCHEBED (eine Anverwandte, hebt vorsichtig den Vorhang des Einganges):
Achab… hör, Achab…
ACHAB:
Leise!… Tritt leise heran! Wie Flaum liegt der Schlummer über ihr, eines Wortes Windhauch schon bläst ihn fort. Nicht störe ihre Ruhe!
JOCHEBED:
Wohl dem, der noch ruhen kann, indes die Tore schüttern und die Festen beben der Stadt!
ACHAB:
Nicht sprich davon, nicht erwähne des Feindes! So du sie liebst, schone der Kranken.
JOCHEBED:
Wie meinest du? Was soll ich nicht sagen?
ACHAB:
Nicht nenn unsere Not! Fremd ist ihr Jerusalems Schicksal.
JOCHEBED:
Nicht fasse ich dich. Sie weiß nicht, daß Krieg unsere Stadt umfährt?
ACHAB:
Wozu ihrs verraten, woran sie verginge? Ein Ahnen schon wäre ihr Tod.
JOCHEBED (in höchstem Erstaunen):
Sie weiß nicht, daß Assur über uns gefallen? Es ist noch ein Lebendiger in den Mauern, der unwissend blieb unseres Elends? Wie konnte solch Wunder geschehen? Sind ihre Sinne verschlossen denn, daß sie die Posaunen nicht hört, meint sie noch Frieden, da schon Widder die Mauern anrennen?
ACHAB:
Ihre Sinne sind dunkel geworden. Was sie hört, vermeinet sie Traum. Die Türen hab ich vertan und die Spalten verschlossen, daß nichts Eingang finde von Lärmen und Licht!
JOCHEBED:
Sie weiß es nicht? Sie weiß es nicht? Wunder ist dies und grausam zugleich. Nichts, sagst du, Achab, weiß sie, auch kein Ahnen rührt ihren Sinn?
ACHAB:
Manchmal flog Ahnen sie an, doch traumhaft nur, und mit Worten scheucht ich es fort. Nur gestern, als das Volk schrie bei des ersten Widders Prall, da schreckte sie auf. Die Decken warf sie im Fieber von sich und reckte die Hände, sie müsse hinaus, sie müsse zu Walle, Krieg sei im Land, Feind in der Stadt, Zion vergehe, Jerusalem falle. Das Wort sei erfüllt, ihr Sohn, er habe es wahrgesagt, der König sei gekommen, der König von Mitternacht. Und sie reckte sich auf und brach in die Knie, doch ehe sie noch stürzte, faßte ich sie und trug sie zum Bett und begütete sie, es sei nur ein Traum, nur ein Fiebertrug, dies Dröhnen draußen von Volk und Posaunen. Sie schien es zu glauben und lag dann offenen Auges und horchte dem dunklen Gedröhne der Gasse
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