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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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wirtschaftlichen Folgen sind im voraus so unberechenbar, der leidenschaftliche Gegensatz zwischen Abolitionisten und Sklavenhaltern so unerbittlich, daß der Thron sich gleichsam nur in einer Schaukelstellung zwischen beiden Parteien erhalten kann, weil das Überneigen zur einen oder zur anderen Gruppe seinen Sturz bedeuten könnte. Bis 1884, über vierzig Jahre, hält der Kaiser darum seine – privat wohlbekannte – Meinung möglichst zurück. Aber allmählich wächst seine Ungeduld, sich von dem Odium zu befreien; ein vorläufiges Gesetz 1885 ordnet die Befreiung aller Sklaven an, soweit sie das sechzigste Jahr überschritten haben – wieder ist ein kräftiger Ruck nach vorwärts getan. Noch immer aber ist der Zeitraum, der automatisch zur Befreiung der letzten Sklaven in Brasilien führte, länger als jener, der einem alten und schon kranken Manne zugemessen scheint, der diese Stunde noch selbst erleben will; so stützt Pedro II. immer sichtlicher im Einverständnis mit seiner Tochter, Dona Isabel, der Thronerbin, die Partei der Abolitionisten. Am 13. Mai 1888 wird endlich das langersehnte Gesetz beschlossen, das eindeutig und ohne Aufschub die sofortige Freilassung sämtlicher Sklaven in Brasilien dekretiert.
    Beinahe hätte der alte Kaiser die Erfüllung seines ehrgeizigen Wunsches nie erfahren. In den Tagen, wo der Jubel über die Nachricht die Straßen Brasiliens füllt, liegt Dom Pedro II. lebensgefährlich krank in einem Hotel in Mailand. Im April hatte er noch mit seinem gewohnten Lerneifer die Museen und die Gelehrten Italiens besucht; er war in Pompeji und in Capri gewesen, in Florenz und Bologna, er war in Venedig in der Accademia prüfend von Bild zu Bild gegangen und hatte abends im Theater Eleonora Duse gehört und Carlos Gomes, den brasilianischen Komponisten, empfangen. Dann wirft ihn eine schwere Pleuritis auf das Krankenbett. Charcot aus Paris und drei andere Ärzte behandeln ihn, aber der Zustand des Kaisers verschlimmert sich derart, daß er bereits mit den Sterbesakramenten versehen wird. Besser als alle Medizinen und Mittel wirkt auf ihn die Nachricht von der Aufhebung der Sklaverei. Das Telegramm gibt ihm neue Kräfte, und in Aix-les-Bains und Cannes erholt er sich so weit, daß er nach einigen Monaten wieder daran denken kann, in die Heimat zurückzukehren.
    Der Empfang des alten weißbärtigen Monarchen, der seit fünfzig Jahren friedlich und würdig das Land beherrscht hat, ist in Rio enthusiastisch. Aber der Lärm einer einzelnen Straße spricht nie die Stimmung eines ganzen Volkes aus. In Wirklichkeit hat die Entscheidung in der Sklavenfrage noch mehr Unruhe geschaffen als vordem der Parteienkampf, denn noch schwerer als die Warnenden vorausgesehen, setzt die wirtschaftliche Krise ein. Viele ehemalige Sklaven laufen vom Lande in die Städte, die landwirtschaftlichen Unternehmen, denen plötzlich ihre main d’œuvre entzogen ist, geraten in Schwierigkeit, und die früheren Eigentümer fühlen sich beraubt, weil ihnen keine oder keine zureichenden Entschädigungen für ihren Kapitalverlust an schwarzem Elfenbein gezahlt werden. Die Politiker, die den scharfen Wind spüren, gebärden sich aufgeregt, weil sie nicht wissen, wohin den Mantel hängen, und die republikanischen Tendenzen, die in Brasilien seit der Unabhängigkeitserklärung Nordamerikas immer unter der Asche glommen, bekommen unerwartete Nahrung durch diese scharfe Zugluft. Die Bewegung richtet sich nicht eigentlich gegen den Kaiser selbst, dessen guten Willen, dessen Rechtschaffenheit und ehrlich demokratische Gesinnung selbst die prinzipiellsten Republikaner achten müssen. Aber Dom Pedro II. fehlt eine und zwar die wichtigste Voraussetzung zur Erhaltung einer Dynastie: der nun Fünfundsechzigjährige hat keinen Sohn, keinen männlichen Thronerben. Zwei Söhne sind in frühem Alter gestorben, die Erbtochter ist mit einem Prinzen d’Eu aus dem Hause Orléans verheiratet, und das brasilianische Nationalbewußtsein ist schon so stark und zugleich empfindlich geworden, daß es einen Prinzgemahl aus fremdem Geblüt nicht mehr anerkennen will. Der eigentliche Staatsstreich geht von der Armee aus, einer ganz kleinen Gruppe, und könnte bei energischer Gegenwehr wahrscheinlich leicht niedergeschlagen werden. Aber der Kaiser selbst, alt und krank und eigentlich des Regierens längst müde, empfängt in Petrópolis die Nachricht ohne rechten Willen zum Widerstand; nichts kann seiner konzilianten Natur verhaßter sein als ein

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