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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Plateau doch niemals jene erschlaffende Wirkung auf die Arbeitskraft übt wie in den tropischen Zonen und den nieder gelegenen Küstenstädten. Schon im siebzehnten Jahrhundert hatte es sich erwiesen, daß der paulista energischer, tatkräftiger, aktiver gesinnt sich entwickelte als die übrigen Brasilianer. Die eigentlichen Träger der nationalen Energie, erobern und entdecken sie das Land, semper novarum rerum cupidi , und dieser Wille zum Wagnis, zu Fortschritt und Expansion hat sich in späteren Jahrhunderten dem Handelswesen und der Industrie vererbt. Das eigentliche Vorwärtstempo bringen dann die Immigranten in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts. Unwillkürlich sucht der Immigrant Lebensbedingungen und eine klimatische Einstellung, die der seinen gemäß ist; die Italiener, die den Hauptstock der Zuwanderung bilden, finden in São Paulo das Klima von Norditalien, von Mittelitalien und die Sonne des Südens wieder. Sie müssen sich nicht umstellen, nicht umlernen; ungebrochen bringen sie ihre ganze Stoßkraft mit sich und verstärken sie eher noch im neuen Lande. Denn der Einwanderer ist immer ungeduldiger vorwärtszukommen als der Ansässige, er besitzt nichts Ererbtes, von dem er ausrastend leben und zehren könnte, sondern muß alles erst erwerben. Das steigert sein Tempo, seinen Energieeinsatz. Und dieser Einschuß von Tatkraft und Wagemut reißt dann die andern mit; gerade die arbeitswilligsten, die ambitiösesten Brasilianer etablieren sich in São Paulo, wo sie diese höher zivilisierten, besser vorgebildeten und leistungswilligeren Arbeiter zur Verfügung haben. Das Kapital strömt dem Unternehmungsgeist wieder willig nach, ein Rad greift ins andere, und so wird der Umschwung von Jahr zu Jahr immer rascher; vier Fünftel all dessen, was heute im ganzen Lande industriell und organisatorisch geleistet wird, hat hier seinen Handgriff und seinen Impetus. São Paulo hält heute mehr als jeder andere Bundesstaat Brasiliens die Wirtschaft in Schwebe, es ist gewissermaßen sein Muskelzentrum, das Organ seiner Kraft.
    Nun ist der Muskel im Organismus zwar eines der notwendigsten Elemente, aber an sich kein schönes Organ. Wer sich von der Stadt São Paulo besondere ästhetische, sentimentale oder pittoreske Eindrücke erwartet, sei gewarnt; es ist eine Stadt, die der Zukunft entgegenwächst und so unruhig und ungeduldig, daß sie für ihre Gegenwart kaum viel Sinn hatte und noch weniger für ihre Vergangenheit. Wer etwas Historisches hier sucht, wird es sowenig finden wie in Houston oder einer der andern nordamerikanischen Petroleumstädte; selbst das alte Kollegium der Stadtbegründer, das wie ein Pantheon pietätvoll hätte bewahrt werden sollen, ist längst irgendeinem Zweckbau zum Opfer gefallen. Von seinem siebzehnten, seinem achtzehnten Jahrhundert hat São Paulo sich soviel wie nichts bewahrt, und wer auch nur einen Überrest von dem paulistischen Wohntypus des neunzehnten Jahrhunderts sehen will, möge sich beeilen, denn mit einer fast erschreckenden Geschwindigkeit wird hier weggeräumt, was noch an gestern, an vorgestern erinnert; manchmal hat man das Gefühl, nicht in einer Stadt zu sein, sondern auf einem gewaltigen Bauplatz. Auf allen Seiten, nach Osten und Westen und Süden und Norden quellen die Häuser in die Landschaft über, und in der inneren City, im Geschäftsviertel, stülpt sich Straße nach Straße um; jemand, der vor fünf Jahren hier gewesen ist, muß sich zurechtfragen und zurechtfinden wie in einer neuen Stadt. Überall ist alles zu eng, zu nieder, zu klein geworden, die Straßen verlangen gebieterisch, breiter zu werden, und quetschen die Gebäude in die Höhe empor, Unterführungen müssen den Automobilen einen neuen Weg ins Freie bahnen, überall verändert sich alles eigenwillig und mit einer gewissen egoistischen Hast; so hat man noch heute hier das lebendige Bild von dem Werden und Sichumformen einer echten Kolonisten- und Immigrantenstadt. Nicht wie bei uns in Europa sind diese Städte langsam Ring um Ring um ein Zentrum gewachsen, sondern improvisatorisch, hastig, aufs Geratewohl. Irgendeiner hatte, herübergekommen, ein wenig Geld verdient; Zinshäuser waren keine zur Stelle, so baute er rasch (der Grund kostete nicht viel und ebensowenig die Arbeit) irgendwohin ein Haus, eines dieser kleinen, kunstlosen Häuser, wie man sie hier überall sieht, die ganze Küste, das ganze Land entlang; jedes nur immer ein offener Laden und darüber ein Stockwerk mit zwei,

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