Stefan Zweig - Gesammelte Werke
diesem Augenblick von rückwärts gestürmt in wahnsinniger Verwirrung. Sie schleudern die Waffen im Lauf weg und gebärden sich wie Tolle.)
WILDE STIMMEN:
Die Mauer ist gefallen… Die Feinde sind in der Stadt… Die Chaldäer über uns… Verloren… Israel ist verloren…
NEUE FLÜCHTIGE:
Abimelech ist tot… Alles ist verloren… Jerusalem ist gefallen… Rettet euch… Die Chaldäer…
NEUE FLÜCHTIGE (in vollem Lauf):
Sie sind hinter uns… Zum Tempel… Alles ist verloren… Wehe… Israel… Israel… Wehe! Israels Ende… verloren Jerusalem!
(DIE MENGE stiebt in furchtbarem Entsetzensschrei auseinander. Sie lassen Jeremias und stürzen kreischend in alle Richtungen. Die ganze Stadt dröhnt von Geschrei und Getöse wirrer Verzweiflung und Flucht.)
VIII. Die Umkehr
»Oh, daß Hiob versuchet würde bis ans Ende.«
Hiob XXXIV, 36.
Ein weitläufiges kellerartiges Gewölbe, dessen Läden verschlossen und dessen Türen verrammelt sind. Feuchtes Grau füllt die Tiefe des unterirdischen Raumes. Wie Gewürm, dunkel und verstrickt, kauern und liegen Flüchtlinge auf den Steinen, einige haben sich um einen Greis zusammengetan, der aus der Schrift mit zerbrochener Stimme halblaut liest; rückwärts liegt, von einer Frau behütet, ein Verwundeter.
Abgesondert von ihnen, auf einem Stein und selbst reglos wie er in Fels erstarrt, sitzt gebückt JEREMIAS, das Antlitz in den Händen vergraben. Er ist ganz teilnahmslos. Sein Schweigen liegt wie ein Block in dem wogenden Murmeln und Widerstreiten der andern.
Es ist der Tag nach Jerusalems Fall, die Stunde nach Sonnenuntergang.
DER ÄLTESTE (liest vor aus der Schrift, den Leib rhythmisch wiegend zu den Worten, die er leise und monoton spricht, nur manche Rufe der Verzweiflung und der Begeisterung ruft er vor, und die andern sprechen sie im murmelnden Chore mit):
Höre, oh höre, du Hirte Israels,
Der du Josefs hütest wie der Schafe,
Erscheine, der du sitzest über Cherubim,
Erscheine, erwecke deine Gewalt!
DIE ANDERN UM IHN (mitmurmelnd):
Erscheine, erscheine, Erwecke deine Gewalt!
DER ÄLTESTE:
Erscheine, du Hirte! Gott, tröste uns,
Laß leuchten dein Antlitz, auf daß wir genesen!
Wie lang willst du zürnen dem betenden Volke,
Mit Tränen sie speisen, mit Tränen sie tränken?
Herr, oh Herr, du Gott Zebaoth,
Laß leuchten dein Antlitz, auf daß wir genesen!
DIE ANDERN:
Laß leuchten dein Antlitz, auf daß wir genesen!
DER ÄLTESTE:
Du hast aus Mizraim den Weinstock geholet
Und eingepflanzt in der Heiden Land,
Du ließest die Wurzeln ihn mächtig ausgreifen,
Gehügel und Berge deckte sein Schatten
Und sprossende Reben die Zedern des Tals,
Doch wehe,
Die Fremden haben die Reben zerrissen,
Die wilden Tiere sein Wachsen verderbet,
Festiglich war er, und wüst ist er nun!
DIE ANDERN:
Herr, oh Herr, du Gott Zebaoth,
Laß leuchten dein Antlitz, auf daß wir genesen!
DER ÄLTESTE:
Nicht denke der Sünden, so wir begingen,
Erbarme dich unser, eh wir vergehn,
Denn dünn und schwank schon sind wir geworden,
Und der Sturm deines Ingrimms wirft uns zu Tod,
Nicht denke der Sünden, so wir begingen,
Gedenke des Bundes, gedenk deines Namens,
Erscheine, du Hirte! Führ heim deine Herde!
Erscheine! Erwecke deine Gewalt!
DIE ANDERN:
Erscheine! Erwecke deine Gewalt!
ANDERE (flehentlich):
Laß leuchten dein Antlitz, auf daß wir genesen!
DER VERWUNDETE (von rückwärts, der leise gestöhnt hat, jetzt laut aufschreiend):
Ah! Ah! Ah!… Ich verbrenne… Legt mir Wasser auf… ich verbrenne… ah… ah… ah… Wasser!
DIE FRAU (neben ihm):
Schweige, Guter, schweige um Gottes Gnade willen! Sie hören uns sonst.
DER ÄLTESTE:
Schweige! Sei stille! Verschließ dich! Du stürzt uns alle ins Verderben.
EIN ANDERER:
Sie töten uns, wenn sie uns entdecken!
DER VERWUNDETE:
Sie sollen mich töten… ah… ah… ich ertrage es nicht… es frißt mich das Feuer… ah… ah… Wasser… Wasser… gebt mir Wasser… ich verbrenne… Hilfe… Hilfe!…
EIN MANN:
Wir müssen ihn schweigen machen, er verrät uns.
DIE FRAU:
Nein… fort von ihm… mein Bruder ist er… von der Mauer habe ich ihn auf meinen Schultern getragen. (Sie kniet bei ihm nieder.) Lieber… Lieber… ich flehe dich an… versuche zu schweigen… ich hole dir Wasser… da, mein Tuch nimm und klemm es in die Zähne… so… so…
(DER VERWUNDETE hat das Tuch sich in den Mund geknebelt. Sein Schreien geht in ein dumpfes Wimmern über.)
(DIE ANDERN, die erregt aufgestanden waren, haben sich
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