Steilufer
Buhne, die an diesem Strandabschnitt, an dem in jedem Winterhalbjahr die Stürme fraßen, die Anlandung fördern sollte. Wenn sie bloß nicht noch ins Wasser fällt, dachte Dorothea, als ihre alte Kollegin jetzt auch noch heftig mit den Armen zu wedeln begann und immer wieder auf die andere Seite des Steinwalls deutete.
»Dodo! Schau dir das an!«
Im Nachhinein bereute Dorothea bitter, Utes Ruf gefolgt zu sein. Niemals wäre sie auf die Buhne geklettert, hätte sie vorher gewusst, was sie auf der anderen Seite zu sehen bekommen sollte. Utes Winken und Rufen hatten wohl eine gewisse Aufgeregtheit, doch nicht genug, um dahinter eine so grauenvolle Entdeckung zu vermuten. An der Seite der Buhne, an die die Brandung rollte, trieb ein kleines Schlauchboot in den Wellen. Die eine Luftkammer schien nicht mehr den vollen Inhalt zu haben und es schlug mit seinem Kunststoffboden gegen die mächtigen Basaltblöcke, was einen dumpfen Klang erzeugte. Ute stand breitbeinig auf den Steinen und zeigte mit dem Finger in das Boot.
»Siehst du, was da liegt?«, fragte sie durch Wind und Brandungsrauschen. Dorothea balancierte konzentriert über die Findlinge, um ihre neuen Schuhe zu schonen und nicht abzurutschen und dann hatte sie das Boot voll im Blick. Ungläubig starrte sie hinein. Sah die Gestalt darin liegen. Dann stieg Übelkeit in ihr hoch. Sie wendete sich abrupt ab und kroch auf allen Vieren über die Steine zurück an den Strand und es war ihr egal, dass sie dabei die edlen Schuhe verschrammte.
»Dodo! Nun warte doch mal! Wir können den doch hier nicht so liegen lassen!«
Dorothea versuchte, den Anblick sofort zu verdrängen, doch dieses im wahrsten Sinne des Wortes zu Brei geschlagene Gesicht, das nur noch eine schwarzbraunrote Masse zu sein schien, haftete in ihrem Kopf. Sie hielt sich die Ohren zu. Sie wollte dieses entsetzliche Ding nicht nur nicht mehr sehen, sie wollte auch nichts darüber hören.
1
Ungläubig starrte sie auf den Papierstreifen, den der Rechner ausgeworfen hatte. Wenn diese Zahlen wirklich stimmten, war ihre Situation nicht nur kritisch, sondern fast schon ausweglos. Wie konnte sie sich nur so täuschen? Der Juni war doch ein verhältnismäßig guter Monat gewesen! Das Wetter hatte mitgespielt, die Pfingstfeiertage waren sehr gut gelaufen und sie hatten eine große Hochzeitsgesellschaft, einen Empfang für den Fremdenverkehrsverein und zwei Geburtstage ausgerichtet. Außerdem hatte ein Team des Regionalfernsehens ein Portrait über ihr Restaurant gedreht und eine große Frauenzeitschrift einen Artikel veröffentlicht, der eine einzige Lobeshymne auf sie und ihre Kochkunst darstellte. Sie hatte ein so gutes Gefühl gehabt. Und nun das.
Resigniert legte Anna Floric den Streifen zuoberst auf den Stapel Briefe auf ihrem Schreibtisch. Fast alle bargen Rechnungen: von Lieferanten, von der Druckerei, von der Wäscherei, von der Autowerkstatt. Ihre Fantasie zum Ersinnen weiterer Sparmaßnahmen war erschöpft. Es würde ihr nichts weiter übrig bleiben, als wieder einmal einen sehr unangenehmen Gang zu ihrer Bank anzutreten und mit diesem Banausen im feinen Zwirn über eine Erweiterung ihres Kreditrahmens zu verhandeln. Schon bei dem Gedanken daran bekam Anna ein flaues Gefühl im Magen. Zahlen waren einfach nicht ihre Welt und vor diesem spießigen Filialleiter als Bittstellerin zu Kreuze zu kriechen, lag ihrem geradlinigen Wesen schon gar nicht. Mechanisch öffnete sie einen Brief nach dem anderen und stapelte alle Rechnungen in den Korb mit der ordentlichen Aufschrift ›Überweisen‹, der rechts auf dem großen, alten Eichenschreibtisch stand. Am liebsten hätte sie mit all diesen finanziellen Dingen gar nichts zu tun gehabt. Kochen, das war es, was sie konnte und wollte. Doch feine Speisen in einem ansprechenden Ambiente zu servieren, war eben noch lange keine Garantie für finanziellen Erfolg. Und sie hätte wissen müssen, auf welches Wagnis sie sich einließ, als sie ein eigenes Restaurant eröffnete, schließlich stammte sie aus einer Dynastie von Hoteliers und Gastwirten.
Ihr fiel ein, dass Yann sie erst kürzlich wieder gemahnt hatte, alle Forderungen penibel auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, bevor sie überwiesen wurden, weil er sie in dieser Hinsicht für ein bisschen zu nachlässig hielt und er hatte wahrscheinlich recht. Mit einem Seufzer ergab sie sich dieser Einsicht und griff nach dem Packen Rechnungen, um ihre Pflicht zu tun. Vom Hof erklang ein lautes
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