Steilufer
sah Hadis skeptischen Blick. Mit einem hilflos wirkenden Schulterzucken wandte er sich ab und kümmerte sich um die unversehrt gebliebenen Eimer mit der Crème fraîche. Er war höchstens vier Jahre älter als Matthias, doch die Erfahrungen in seiner Heimat, aus der er in Matthias’ Alter hatte fliehen müssen, hatten ihn unfreiwillig sehr früh erwachsen werden lassen. Auch wenn der deutsche Junge nicht in paradiesischen Verhältnissen groß geworden war, vaterlos, sehr bescheidene Wohnverhältnisse, viel allein, weil die Mutter jede Putzstelle annehmen musste, um ihre beiden Söhne zu ernähren – er wusste wirklich nicht, wie gut er es hatte, im Vergleich zu Hadis Biografie und der der Anderen. Eigentlich hatte sie angenommen, Menschen, die tagtäglich miteinander arbeiteten, würden sich auch über die Arbeit hinaus füreinander interessieren – Matthias offensichtlich nicht. Vielleicht lag es auch nur an Hadis geringen Deutschkenntnissen, dass es mit dem Kontakt haperte. Sie würde mit Matthias einmal ein ernsthaftes Gespräch führen müssen, doch jetzt war dazu weder Zeit noch Gelegenheit.
»Ist Matte ein Rassist?«, fragte Lionel, der mit Jakob die Vorgänge im Flur interessiert verfolgt hatte, seine Mutter. Die Backen voller Pfannkuchen, schauten die beiden Anna gespannt an. Vor den großen Ferien hatten sie in der Schule das Thema Ausländerfeindlichkeit behandelt, nachdem ein schwarzer Junge, der eine höhere Klasse ihrer Schule besuchte, auf dem Schulweg von ein paar halbwüchsigen Neonazis böse misshandelt worden war. Einer von vielen kleinen Vorfällen, die Anna Angst machten.
»Matte ist ein dummer Junge, der mit sich selbst unzufrieden ist – kein Rassist«, antwortete sie bestimmt, doch in ihrem Kopf war sie sich nicht so sicher. Obwohl er schon ein paar Monate als Lehrling bei ihnen war, kannte sie Mat-thias im Grunde gar nicht, hatte über das Berufliche hinaus mit ihm kaum ein paar Worte gewechselt. Er war ein verschlossener Junge und hatte wahrscheinlich Schwierigkeiten mit der nicht ganz überwundenen Pubertät. Er war ein bisschen dicklich und hatte noch ein richtiges Kindergesicht. Die Haare trug er sehr kurz, was ihn eher entstellte, als ihm schmeichelte. Trotz seiner 19 Jahre war er gerade mal im ersten Lehrjahr. Nach der Schule, die er mit mäßigen Leistungen verlassen hatte, gab es keinen Beruf, der ihn wirklich interessiert hätte, geschweige denn Lehrstellen und er fiel seiner Mutter, die in der ›Villa Floric‹ putzte, mehr und mehr zur Last und als diese Anna um Hilfe bat, konnte sie, wie so oft, nicht nein sagen und nun war er hier. Er stellte sich gar nicht so schlecht an in der Küche, hatte flinke Finger und war schnell und ordentlich, doch verrichtete er alle Aufgaben mit mürrischem Gesicht und sprach nur das Nötigste. Waren seine ruppige Ausdrucksweise und seine kurzen Haare schon Ausdruck einer politischen Haltung? Anna seufzte. Ein persönliches Gespräch mit ihm stand wohl wirklich dringend auf der Tagesordnung.
Als die beiden Jungen ihr Mahl beendet hatten, trieb ihr Pflichtbewusstsein Anna doch wieder an ihren Schreibtisch zurück. Wenn sie sich nicht gerade der ungeliebten Buchführung widmen musste, fühlte sie sich in ihrem Büro sehr wohl. Im ersten Stock der Villa gelegen, war es der kleinere Teil eines großen Raumes, dessen Hauptteil sie zum Zimmer für Lionel ausgebaut hatten. Jede freie Wand des kleinen Büros wurde mit Regalen genutzt, die bis zur Decke mit Akten, Büchern und Fundstücken jeder Art voll gestopft waren. Fotos, alte Speisekarten, ein kleines Stillleben in Öl fanden sich darin, ebenso wie Muschelschalen, eine ungeöffnete Champagnerflasche, eine kleine Quicheform, drei Probegläschen Konfitüre und eine Reihe mehr oder minder geschmackvoller Werbegeschenke irgendwelcher Feinkostlieferanten. Hauptsache, Anna hatte die Dinge erst einmal von ihrem Schreibtisch. Das riesige Eichenungetüm bot trotz seiner ungeheuren Ausmaße kaum ausreichend Platz für Computer, Telefon und all die Papierstapel, Bücher und Zettel, die sich hier türmten. An der Rückwand des Raumes drängte sich noch ein mit flaschengrünem Samt bezogenes Jugendstilkanapee, auf dem Besucher Platz nehmen durften und vor dem ein winziges Bistrotischchen stand.
Lionels abgetrenntes Reich verfügte über vier Fenster, die einen freien Rundblick über die Lübecker Bucht erlaubten. Aber außer dass er Schiffe beobachten konnte, interessierte einen Jungen in Lionels Alter
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