Steilufer
Motorengeräusch.
Anna hob den Kopf und sah durch das Fenster, wie der schmächtige Hadi sich gerade noch mit einem Sprung vor dem heranpreschenden Lieferwagen mit der Aufschrift ›Gourmet-Profi‹ in Sicherheit bringen konnte, der jetzt kurz vor ihm mit einem heftigen Ruck zum Stehen kam. Die Fahrertür sprang auf und heraus federte ein braun gebrannter Mann mit einem kurzen Bürstenschnitt, der an den Haarspitzen blond gefärbt war. Grinsend rief er etwas in Hadis Richtung, was Anna durch die geschlossenen Fenster nicht verstehen konnte. Hadi antwortete nur mit einer drohend erhobenen Faust und verschwand dann schnell in Richtung Remise. Gerade wollte Anna hinausstürzen und diesen rücksichtslosen Typen anschreien, in Zukunft auf ihrem Grundstück wie ein zivilisierter Mensch zu fahren, schließlich spielten hier auch öfter Kinder, da sah sie Mat-thias, den Kochlehrling, den alle nur ›Matte‹ nannten auf den Hof treten und ganz gegen seine Gewohnheit machte er ein freundliches Gesicht.
Er und dieser Rennfahrer klatschten sich wie alte Kumpels mit der rechten Hand ab, der Fahrer, der vielleicht um die 30 sein mochte, bot Matthias eine Zigarette an und dann standen sie nebeneinander und rauchten und schienen viel zu bereden zu haben. Der Ältere trug eine Art Armeehose in Tarnfarben zum weißen T-Shirt, das auch den Schriftzug ›Gourmet-Profi‹ trug und eng um seinen breiten Oberkörper und die muskulösen Arme spannte und ab und zu haute er Matte kräftig auf die Schulter. Das schien der wie ein Kompliment zu genießen.
»Anna! Die Frischware kommt gerade an. Ich nehme die Lieferung entgegen. Gibts irgendwas, das wir brauchen können, falls er ein zusätzliches Angebot hat?«
Yanns Stimme ließ Anna den Blick vom Hof nehmen und sie rief in den Treppenflur:
»Merci, Yann! Ich habe neulich mal nach Meeresschnecken gefragt. Wenn er heute welche hätte, wäre das schön, wir könnten mal wieder die kleinen Schneckenküchlein anbieten. Zwei Kisten würden ausreichen.«
»D’accord, cheffesse!«
Mit einem Lächeln beugte sich Anna wieder über die Rechnungen auf dem Schreibtisch. ›Chefin‹ nannte er sie. Yann war ihr Geschäftspartner, ihr Berater und darüber hinaus, wenn sie es recht bedachte, Teil ihres Lebens. Ohne ihn hätte sie die Idee, hierher in den Norden Deutschlands zu ziehen, die ›Villa Floric‹ zu eröffnen und ein neues Leben zu beginnen, wahrscheinlich nie in die Tat umgesetzt. Und dabei hatte sie viele Gründe gehabt, das Küstenstädtchen in der Bretagne, in dem sie geboren und aufgewachsen war, nach 27 Jahren zu verlassen. Als sie Yann von ihren Absichten erzählte, hatte er ihr sofort angeboten, mitzukommen – er, der jetzt auch schon auf die 40 ging, damals kaum Deutsch sprach und in seiner Heimat am Atlantik fest verwurzelt schien. Natürlich hatte sie das im ersten Moment sehr erstaunt, doch da er außer einer Cousine, die in Nantes wohnte und die er kaum kannte, keinerlei Verwandte hatte und schon so lange mit ihrer Familie lebte, hatte sie sein Angebot dankbar angenommen und diese Entscheidung keine Sekunde bereut.
Seit mehr als drei Jahren lebten und arbeiteten sie schon an diesem Platz hoch über der Lübecker Bucht – und was für ein herrlicher Platz war das! Sie erinnerte sich noch an ihre erste Annäherung über den Fußweg, der über das Steilufer durch einen kleinen Laubwald führte, der sich plötzlich auftat und den Blick auf die in einem sanften Altrosa leuchtende Jugendstilvilla freigab, davor, begrenzt von Heckenrosen, eine Art natürliche Terrasse, unterhalb derer man die Ostsee in der Ferne glitzern sah und die Schemen der mecklenburgischen Küste erahnte. Immer wieder hatte ihre Tante Edith Anna von der schon lange leer stehenden historischen Gaststätte berichtet und versucht, sie zu einer persönlichen Inaugenscheinnahme nach Lübeck zu locken. Als sie dann endlich davor stand, war sie ohne Widerstand dem Charme des zweistöckigen Gebäudes aus den 20er Jahren und seiner traumhaften Umgebung erlegen und es hatte keiner weiteren Überredungskunst ihrer Tante bedurft.
Anna hatte sich ihren Anteil am Erbe auszahlen lassen und voller Elan hatten sie und Yann sich in die Renovierung gestürzt, behutsam die alte Bausubstanz unter den Renovierungsschäden früherer Besitzer freilegen lassen, den Garten neu angelegt und die Gasträume mit der gleichen Liebe und Aufmerksamkeit gestaltet, mit der sie eine eigene Wohnung eingerichtet hätten. Nach fünf Monaten
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