Steilufer
das Panorama eher wenig. Annas Büro hatte nur zwei Fenster, von denen eines zum Hof zeigte und das andere sie zumindest auf ein Zipfelchen Ostsee blicken ließ. Beide Aussichten hatte sie von ihrem Schreibtischstuhl aus im Blick und die dunklen, regenschwangeren Wolkenberge, die sich gerade von West nach Ost über den Himmel schoben, waren nicht dazu angetan, ihre durch die Beschäftigung mit den schlechten Umsätzen gedrückte Stimmung zu heben. Höchstens 16 Grad im Juli, dazu Regen und Wind: Das waren keine guten Aussichten für die Hochsaison, die hier gerade zwei Monate – Juli und August – dauerte.
»Ihre Zahlen, Frau Floric! Ihre Zahlen!«, würde der Mann in der Bank, der angeblich ihr persönlicher Berater war, wieder beschwörend raunen und sein Gesicht in besorgte Falten legen. Anna streckte beide Arme nach oben und gähnte herzhaft.
»Fatiguée, chefesse? Darf ich reinkommen?«
Yann deutete am Türrahmen ein Klopfen an, eine für seine natürliche Zurückhaltung typische Geste, denn die Bürotür stand immer offen.
»Müdigkeit wirst du dir heute nicht leisten können, Anna. Du weißt, wir haben heute Abend volles Haus: zwei Geburtstagsgesellschaften. Und es sind jetzt auch schon jede Menge Einzelreservierungen eingegangen – dabei ist erst früher Nachmittag!«
Anna hatte ihren Bürostuhl zu ihm herumgedreht und sah sein zufriedenes Gesicht.
»Mais c’est merveilleux, Yann! Eine bessere Nachricht konntest du mir gerade jetzt gar nicht bringen!«
»Gibt es Probleme? Ich finde, es läuft richtig gut zurzeit.«
»Das dachte ich auch. Setz dich doch, Yann!«, sagte Anna und deutete auf das grüne Kanapee.
»Ich hatte nicht vor, dich mit diesem neuen Finanzloch zu belästigen«, begann sie, doch Yann unterbrach sie sofort:
»Anna, du weißt, ich kann mir jederzeit das Geld aus meiner Lebensversicherung auszahlen lassen.«
Jetzt ließ Anna ihren Partner nicht ausreden.
»Und du weißt, dass ich das nicht will! Wahrscheinlich hast du noch nie richtig darüber nachgedacht, aber du wirst das Geld im Alter bestimmt gut brauchen können. So üppig wird deine Rente nicht sein und dann wird man mal krank, hat den einen oder anderen Wunsch und dann ist man froh, noch so ein kleines finanzielles Polster in der Hinterhand zu haben.«
Yann schüttelte seinen Kopf und lächelte.
»Du redest, als ob du meine Mutter wärst! Wir haben gerade vor kurzem dieses Restaurant eröffnet, unser Leben fängt doch langsam erst an!«
Yann war ein Mensch von schlichter Bodenständigkeit und normalerweise kein Freund vieler Worte, doch seit sie an der ›Villa Floric‹ und ihrer gemeinsamen Zukunft arbeiteten, war seine ruhige, fast schüchterne Zurückhaltung einer maßvollen Begeisterung gewichen. Wie er da so auf dem Kanapee saß – ein großer Mann in Jeans und Troyer, kurzes, dunkles Haar über dem sonnengebräunten Gesicht mit den wachen, blauen Augen, die forschend seine Umgebung erfassten –, strahlte er einen unerschütterlichen Optimismus aus, von dem Anna sich nur zu gerne anstecken ließ.
»Aber zurück zum Thema«, sagte Yann. »Ich will dir nur erklären, dass ich lieber jetzt das Geld nutzbringend investiere, als es liegen zu lassen, bis ich womöglich selbst gar nicht mehr bestimmen kann, was ich damit anfangen will. Und was den einen oder anderen Wunsch betrifft – das Meer, der Wein, eine charmante Partnerin – was will ich mehr?«
Er lächelte und heftete seinen klaren Blick fest auf Anna, deren Wangen sich sanft röteten, was ihr ziemlich peinlich war. Was war nur mit ihr los? Sie kannte Yann, seit sie 12 war, seitdem gehörte er einfach zu ihrem Leben und plötzlich gab es da so irritierende Momente. Dabei hatte sie geschworen, sich nicht noch einmal mit der sogenannten großen Liebe zu belasten, denn man konnte nie sicher sein, ob dieses Glück nicht abrupt beendet werden würde. Und dann war man einsamer als je zuvor. Das wusste sie sehr genau. Als Yann zu ihrem eigentlichen Gesprächsgegenstand zurückkehrte, war sie richtig erleichtert.
»Ich bin überzeugt, wir stehen auch diesen finanziellen Engpass durch, wir zwei alten Bretonen – glaubst du nicht? Wir haben schon so viel geschafft, da haut uns doch dieses kleine Finanzloch nicht um! Wir stehen am Beginn der Hauptsaison und ich bin sicher, das wird eine gute Saison! Ich rieche das: Es wird eine Supersaison!«
Froh und dankbar für Yanns aufmunternde Worte, beschloss Anna sogleich, zum Anfang kommender Woche einen Termin in der
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