Steinfest, Heinrich
Kingsley
hieß.
Um aber Alicias Handeln zu verstehen, hätte Fabian
folgendes wissen müssen:
Es lag erst wenige Monate zurück, daß Kingsley erstmals
von ihrem Vater gehört hatte. Nicht aus dem Mund ihrer Mutter, der das Wort
Vater zu keinem Zeitpunkt über die Lippen gekommen war. Nein, es war dieser
Vater selbst gewesen, der - kurz nach dem Überfall auf seinen Sohn - sich bei
Alicia gemeldet hatte. Denn er hatte sich nicht sicher sein können, ob Fabian
und seine Leute möglicherweise von der Existenz dieses verdrängten Kindes
erfahren hatten und darum die Überlegung anstellten, auch auf sie
zurückzugreifen, auch sie in irgendeiner perfiden Weise ins Spiel zu bringen.
Obwohl nie ein Kontakt zwischen Vater und Tochter
bestanden hatte, kannte Uhl sich aus. Er wußte um Alicia, wußte, daß sie im Sicherheitsgewerbe
tätig war und somit zu denen gehörte, die ganz gut auf sich aufpassen konnten.
Trotzdem wollte er sie warnen. Darum, nur zu diesem einen Zweck, hatte er sie
zu einem Treffen gebeten. Und nicht, um sich zu einer ungeliebten Vaterschaft
zu bekennen oder sonstwie in der Vergangenheit herumzurühren.
Doch der Zufall intervenierte.
Denn Alicia bekam auf diese Weise auch den Jungen, mit dem
sie den Vater und einen Haufen Gene teilte, zu Gesicht, zwar nur von fern und
nur für einen kurzen Augenblick, dennoch deutlich: die schlaksige Gestalt eines
halben Kindes, so unsicher wie liebenswert. Und so wurde sie sich der Existenz
eines fünfzehnjährigen Halbbruders bewußt.
Kingsley konnte nichts dagegen tun, es rührte sie, einen
Bruder zu haben. Es rührte sie mit der Heftigkeit einer Urgewalt, so unwirklich
und ohne jede Zukunft dies auch sein mochte. Da war ein Empfinden, so stark,
daß nicht einmal Verachtung für den miserablen Vater übrigblieb. Kingsley war
erfüllt von Liebe für einen Bruder, mit dem sie nie ein Wort wechseln würde,
den sie nie würde auf die Wange küssen dürfen. - Aber Liebe gehört ganz sicher
zu den Dingen, die ohne alles funktionieren. Liebe ist ein Perpetuum mobile.
Freilich war Kingsleys Wesen gleichzeitig viel zu sehr von
den Bedingungen einer vom Kampf und vom Kämpfen verkrüppelten Welt bestimmt,
als daß sie darauf hätte verzichten können, etwas zu unternehmen. Auch sie war
eine Kriegerin, wenn auch weder schlafend noch schwanger, und natürlich war sie
ebensowenig frei, sondern eine Söldnerin. Doch selbst für Söldner kann der
Moment kommen, wo sie im eigenen Auftrag tätig werden und ihre Fähigkeiten
gegen die wenden, die stets meinen, die Söldner im Griff zu haben.
Kingsley verabredete sich noch ein weiteres Mal mit ihrem
Vater, um ihm unmißverständlich klar zu machen, daß er gehen müsse, weg von
Deutschland, weg von Europa, weg von einem Kontinent, der mehr als jede
afrikanische Bananenrepublik zum Spielball einer machtvollen, selbsternannten
Elite geworden war. - Einer Elite, die nicht links und nicht rechts stand,
keine Ideologie und keine Religion vertrat, sondern sich ganz allein über sich
selbst definierte, ganz darüber, die Dinge in der Hand zu haben, die Justiz,
die Behörden, den Boden und die Bodenschätze, die Natur, die Hirne der Bürger,
die Geldbörsen sowieso. Diese Elite glaubte sogar, auch Kontrolle über Gott zu
haben, gleich, ob von einem konfessionellen Gott die Rede war oder jenem, bei
dem es sich vermutlich um eine Maschine handelte. Man war überzeugt, daß der
eine wie der andere Gott auf eine endgültige Weise paralysiert war und daß man
ihn wie eine Herrgottsschnitzerei nach eigener Laune hin und her schieben
konnte. Ja, diese Leute hielten den Herrn für hirntot. Es gab also fast nichts,
was sie fürchteten. Bis auf eines: den Zufall. Denn obgleich sie Gott in einer
königlichen Schachmattsituation wähnten, ergab sich für sie die Schwierigkeit,
daß da noch jemand anderer war, den sie keineswegs in einem komatösen Zustand
sahen: den Teufel. Und die größte Gabe des Teufels war es nun mal, Zufälle zu
schaffen. Und vor allem war der Teufel der Elite in einer Sache ebenbürtig:
auch er war ein famoser Trickser. In verwandter Weise wie sie kultivierte er
den Obertrick, der sich im schwäbischen Raum gerne darin manifestiert, sich in
keiner Weise um sein eigenes "saudomms G'schwätz" von gestern kümmern
zu müssen.
Welcher Geist auch immer Alicia Kingsley antrieb, sie
hatte sich entschlossen, ihren Vater, ihre nie gesehene Stiefmutter sowie ihren
geliebten Halbbruder fortzuschicken, und zwar an einen Ort, den man
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Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition) Online Lesen
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