Steirerkind
ungefähr lag, ließ sich nur am eingeschneiten Holzzaun erahnen, der das nähergelegene linke Ufer ein Stück weit begrenzte, und an der kleinen Blockhütte neben dem leeren Ziegengehege am rechten Ufer. Der vereiste Wasserfall, der in der wärmeren Jahreszeit von Obersee und Hüttensee über Fels und Stein in die Tiefe herab bis zum Steirischen Bodensee stürzte, blieb dem Auge des Betrachters im Schneetreiben ebenfalls verborgen.
Sandra stieg aus dem Wagen. Die Landschaft erschien ihr wie in Watte gepackt. Das gedämpfte Geräusch ihrer Autotür, die ins Schloss fiel, verstärkte diesen Eindruck noch. Als sie sich dem Fischerwirt zuwandte, machte sich der baumlange Räumdienstfahrer gerade daran, den Weg zum Eingang freizuschaufeln. Der Mann war wahrhaftig ein Engel. Im Gegensatz zu Bergmann, der noch immer im Auto saß und diabolisch grinste. Seelenruhig wartete er ab, bis der Arbeiter mit der Zigarette im Mundwinkel eine Schneise in den frischen Tiefschnee geschaufelt hatte, während Sandra sich den Hintern abfror. Fehlte nur noch, dass sich der Chefinspektor selbst genüsslich eine anzündete. Wenigstens dieses Laster hatte er zu ihrer großen Freude aufgegeben. Endlich stieg er auch aus und folgte ihnen zum Eingang der Gastwirtschaft.
Der Fahrer wollte sich ein heißes Getränk und eine Jause gönnen, ehe er seinen Dienst fortsetzte. Wie es aussah, würde es eine lange Schicht werden, meinte er zu Sandra gewandt und steckte sich eine neue Zigarette zwischen die rissigen Lippen, ehe er im Raucherbereich des Lokals verschwand. Bergmanns sehnsüchtige Blicke folgten ihm und seinem Glimmstängel.
»Lass es bleiben, Sascha«, redete Sandra ihm gut zu, »du hast es jetzt schon ein halbes Jahr lang ohne Zigaretten ausgehalten. Du brauchst das doch gar nicht mehr.«
»Sechs Monate, eine Woche und fünf Tage, um genau zu sein«, erwiderte Bergmann, während er sich aus seinem Parka schälte.
Kaum hatte Sandra ihren Anorak an die Garderobe gehängt und sich umgewandt, erblickte sie Manfred Siebenbrunner. Der leitende Kriminaltechniker saß mit zwei seiner Leute sowie einem unbekannten Mann und einer jungen Frau in Polizeiuniformen am Stammtisch und blickte ihnen missmutig entgegen.
»Da sind Sie ja endlich!«, rief er ihnen eher vorwurfsvoll als erfreut zu und nahm einen Schluck von seinem alkoholfreien Bier.
Sandra ignorierte die Unhöflichkeit Manfred Siebenbrunners, den sie zwar fachlich, nicht jedoch menschlich schätzte, und bestellte bei der jungen Kellnerin, die ihnen auf halbem Weg entgegenkam, einen Tee mit Zitrone, Bergmann orderte einen doppelten Espresso.
Beim Tisch angelangt, stellte Sandra sich und den Chefinspektor den Uniformierten vor. Die beiden waren im Gegensatz zu den drei Kollegen aus Graz aufgestanden, um sie zu begrüßen.
»Abteilungsinspektor Johann Seitinger«, sagte der vollbärtige Kommandant der Polizeiinspektion Haus im Ennstal, »und das hier ist meine Kollegin, Frau Gruppeninspektorin Barbara Grübler.«
»Angenehm.«
»Sie nehmen es uns doch nicht übel, dass wir in der Gaststube auf Sie gewartet haben?«, entschuldigte sich der korpulente Polizist und deutete den Neuankömmlingen, sich zu ihnen zu setzen.
Sandra wählte den freien Stuhl mit Blick auf das knisternde Kaminfeuer, das trotz des wenig erfreulichen Anlasses und Siebenbrunners Anwesenheit eine heimelige Stimmung verbreitete.
»Nein, natürlich nicht – bei diesem Wetter«, antwortete sie.
»Die Leiche ist geborgen, der Fundort abgesichert«, meldete sich Siebenbrunner erneut zu Wort. »Die Spurensuche ist vorerst abgeschlossen. Macht keinen Sinn mehr bei diesem Wetter. Die meisten meiner Männer sind längst auf dem Heimweg.«
»Meine Leute und die Feuerwehr hab ich auch heimgeschickt, nachdem sie mit ihrer Arbeit hier fertig waren«, berichtete Seitinger. »Der Polizeiarzt musste ebenfalls dringend weg. Und unser Mann beim Schranken ist inzwischen auch aufgebrochen, damit er über die frisch geräumte Straße aus dem Tal herauskommt.«
»Ist gut. Könnten Sie uns bitte mit den Details vertraut machen?«, kam Sandra auf den Fall zu sprechen.
»Aber sicher«, übernahm die junge, hagere Gruppeninspektorin das Wort und zückte ihren Block. Sandra positionierte ihr Aufnahmegerät in der Mitte des Tisches und schaltete es ein.
»Also: Die beiden Söhne des Gastwirts haben vormittags auf dem See Eishockey gespielt. Normalerweise ist das Eislaufen hier verboten, wie auch das Baden und Angeln, wegen der
Weitere Kostenlose Bücher