Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
der Zoomtaste herum, knipste und ließ dann den Arm sinken. «Was riecht hier so?», fragte sie.
«Riecht?», sagte Stella.
«Da brennt irgendwas!»
«Brennt?»
«Ist das etwa das Bügeleisen, Stella?»
Isabel und Stella rannten los.
Es war tatsächlich das Bügeleisen. Bei all der Aufregung über Gatzkis Besuch hatte Stella das Bügeleisen mitten auf der Weste stehen lassen. Ein riesiger Brandfleck war der Beweis ihres Leichtsinns. Sie zogen den Stecker und öffneten das Fenster, damit der üble Geruch nach verschmorter Seide verflog, tauchten die Weste in eiskaltes Wasser, um einen bleibenden Fleck zu vermeiden – hoffentlich! – und eilten zurück ins Wohnzimmer. Doch der Große Gatzki war schon verschwunden. Dafür standen Julia und Louise mit Milena und Charlotte da, alle sehr selbstzufrieden, denn sie waren nun jede stolze Besitzerin eines eigenen Fotos mit dem Großen Gatzki.
«Aber keine Sorge», sagte Julia zu Stella. «Mit Photoshop können wir für dich auch eins machen. Wir montieren einfach deinen Kopf auf meinen Körper. Den Unterschied merkt sowieso keiner.»
Argh.
Am folgenden Nachmittag kam Josephine mit Arturs Gebetsschal vorbei. Sie und Isabel wollten die vier Besenstiele für die Hochzeits-Chuppa ausprobieren.
«Mama», sagte Isabel, «du wirkst ja ganz außer Atem.»
«Ich wirke nicht nur so, meine Liebe, ich
bin
es auch», sagte Josephine. «Ich bin achtzig Jahre alt. Und eben eine Treppe hochgestiegen.»
«Aber wir haben doch einen Aufzug.»
«Und ich habe ein Herz, das trainiert werden muss.»
Isabel schaute Josephine an, als sähe sie ihre Mutter zum ersten Mal – ihr Haar, das mittlerweile schneeweiß war, die dünnen Fältchen um die Augen, die Altersflecken auf den Händen. Ein Bild von ihrer Großmutter Channa blitzte in ihrem Kopf auf, wie sie in New York nach ihrem Schlaganfall erschöpft auf der Couch lag. Josephine war jetzt ein paar Jahre älter als Channa damals kurz vor ihrem Tod.
«Hier ist sie, Oma!», sagte Stella und holte Isabel aus ihren Gedanken.
«Oh, dear!», sagte Josephine, als sie die kaputte blaue Satinweste sah. «Oh, dear. Das Erbstück meiner Großmutter.»
«Mama», sagte Isabel, «das Ganze tut mir wirklich sehr leid, aber so was passiert eben, wenn man einem Kind ein Erbstück aus Seidensatin schenkt. Was um Himmels willen hast du dir nur dabei gedacht?»
Josephine warf ihrer Tochter einen vernichtenden Blick zu. «Das, meine Liebe, wirst du wohl selbst herausfinden müssen.»
Isabel seufzte. «Es war schon alt und verfleckt, als du es Stella geschenkt hast. Und jetzt ist die Weste alt und verfleckt und verbrannt dazu. Wirf sie weg!»
«Nein!», protestierte Stella.
«Gib sie mir, bitte», sagte Josephine ruhig. «Lass mal sehen.»
«Mama!», sagte Isabel. «Aus nichts kann man nichts machen!»
«Pst!», sagte Josephine, untersuchte die Weste und drehte sie immer wieder hin und her. «Wenn ihr mich fragt», meinte sie schließlich, «ist noch genügend Stoff übrig, um einen hübschen, kleinen Beutel daraus zu machen.»
«Siehst du!», sagte Stella triumphierend zu ihrer Mutter. «Siehst du!»
Isabel zuckte nur mit den Schultern.
«Also», sagte Josephine zu Stella und lehnte sich im Sofa zurück. Sie wirkte immer noch außer Atem. «Möchtest du die Geschichte von dem verzauberten Stoff hören?»
«Klar», sagte Stella und setzte sich zu ihr.
«Ich schließe mich an», sagte Isabel. «Nur dieses eine Mal.»
Stella und Josephine waren überrascht, aber sie machten gerne Platz für Isabel.
Josephine holte tief Luft und fing an zu erzählen. «Es war einmal im Januar 1919 , weit zurück im letzten Jahrhundert und weit entfernt in Russland, hoch oben an der Ostsee …»
Am Freitag, zwei Tage vor der Hochzeit, kam Josephine mit dem blauen Seidensatinbeutel vorbei. Er hatte eine Patte und einen langen Schulterriemen aus blauer Kordel. Der Beutel selbst war mit Schneeflocken und Sternen aus Silberbrokat übersät. Er war nicht sehr groß, bot aber genügend Platz für Stellas Geld, ihren Schulausweis, einen Stift, ihren Hausschlüssel und sogar ein Taschenbuch.
«Hmpf», sagte Isabel, schnappte sich den Beutel und untersuchte ihn Zentimeter für Zentimeter und Stich für Stich, als entzifferte sie Buchstabe für Buchstabe das Rezept eines Arztes. «Hmpf», sagte sie noch einmal und ging aus dem Zimmer, um den Hochzeitscaterer anzurufen.
Stella trug den Beutel natürlich zu Gruschas und Andrejs Hochzeit, den Riemen
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