Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
quer über die Brust geschlungen. Es war ein hübscher, leuchtend blauer Farbtupfer auf ihrem silbergrauen Seidensatinkleid. Sie trug ihn außerdem zur Bar Mizwa ihres Bruders Marco, zu Gruschas Babyparty zwei Wochen vor Camillas Geburt und dann zu ihrer eigenen Bar Mizwa, als sie zwölf wurde. Und sie trug ihn natürlich, als sie Oma Josephine nach ihrer Herzoperation im Krankenhaus besuchte. Der Beutel kam mit Stella also ganz schön viel herum. Doch dann schlug eines Tages wieder das Unheil zu.
Dreizehntes Kapitel D ie Multitaskerin
Stella war stolz auf ihre Multitasking-Fähigkeiten. Sie saß am Schreibtisch ihrer Mutter hinten in der Apotheke und stempelte die neuen
Apotheken Gazetten
mit der Adresse und dem Logo der Menzel-Apotheke, während sie einen Pfefferminztee trank, eine vitaminreiche Bio-Aprikosen-Mandel-Fruchtschnitte aus der Nahrungsmittelabteilung ihrer Mutter kaute, ihre Facebook-News auf dem Handy las und über einen möglichen ersten Satz für ihren Aufsatz nachdachte, der am nächsten Tag fällig war. Wenn sie erst mal den Anfang hatte, konnte sie den Rest vermutlich problemlos schreiben. So jedenfalls war es beim letzten Mal gewesen. Sie sollten etwas beschreiben, das sie besonders gern mochten. Sie wählte Cupcakes. «Cupcakes haben etwas Magisches», lautete ihr erster Satz, und sobald sie ihn auf Papier gebannt hatte, passierte tatsächlich etwas Magisches: Sie konnte die ganze Geschichte von Anfang bis Ende in einem Rutsch durchschreiben. Aber diese neue Aufgabe war weder so schön noch so lecker wie ein Cupcake. Selbst das schlichteste Cupcake hatte wenigstens eine hübsche Zuckergusskrone obendrauf. Aber was gab es Aufregendes über «Ein Tag im Leben einer Siebtklässlerin» zu berichten? Ihre Deutschlehrerin Frau Schiefelbein fand, genau das sei die Aufgabe des Schülers: etwas vermeintlich Alltägliches und Banales so aufregend und interessant wie möglich darzustellen.
Stella war mit dem Stempeln der
Apotheken Gazetten
fertig. Sie legte sie beiseite und schnappte sich einen Stapel Magnesium-Broschüren, die gerade eingetroffen waren. Als sie den Raum durchquerte, schaute sie kurz in den Spiegel: ein dreizehnjähriges Mädchen mit roten, zum Pferdeschwanz gebundenen Kräuselhaaren, blauen Augen und einem nüchternen weißen Laborkittel über T-Shirt und Jeans. Ihre Mutter bestand darauf, dass sie den Laborkittel trug, und meistens tat Stella so, als wäre ihr das lästig, aber es störte sie nicht wirklich. Im Gegenteil. Der Kittel ließ sie wichtig aussehen, wie ihre Mutter, oder noch besser: wie ihre Kinderärztin Dr. Dreier, die auch rotes Haar hatte, aber klein und kurvig war, besonders obenherum. Stella war schon einen Meter einundsiebzig groß, dünn und, ja, man musste es leider sagen: absolut flachbrüstig. Ihr Laborkittel war im Oberteil viel zu groß. Sie stellte sich aber vor, dass sie im Kittel bestimmt anders aussehen würde, wenn sie erst 28 und Ärztin wäre. Ihr blieben also noch gut 15 Jahre, um die Sache mit der Oberweite hinzukriegen. Stella und auch ihre Freundin Julia wollten beide Ärztin werden – seit letztem Herbst, als sie zusammen im Ethikunterricht eine Facharbeit über «Ärzte ohne Grenzen» geschrieben hatten. Ärztin schien genau das Richtige zu sein, wenn man gut in Biologie war und Orte bereisen wollte, die interessanter waren als die Mecklenburgische Seenplatte.
Stella setzte sich wieder an den Eichenschreibtisch ihrer Mutter. Von dort aus konnte sie das Labor sehen, wo ihre Mutter am Emulgator eine Salbe mixte. Rechts von ihrer Mutter waren Regale mit braunen Flaschen, auf denen Namen wie
Pasta zinci mollis
standen, was nach dem Tagesgericht vom Lieblingsitaliener klang, in Wirklichkeit aber eine Paste aus Zink war, die bei Windelausschlag half.
Bäh
.
Stella richtete ihr Augenmerk auf die Magnesium-Broschüren. Auf der Rückseite befand sich ein leeres Kästchen für den Stempel der Apotheke. Sie fing an zu stempeln.
Der Türsummer ertönte, und eine kleine, alte Frau mit einem Rollator trat ein.
«Guten Tag, Frau Ebbinghaus!», sagte Beate, eine der anderen Apothekerinnen. «Ihr Blutdruck, nehme ich an? Oder was können wir heute für Sie tun?» Beate benutzte wieder ihre hohe Singstimme, die sie sich immer für ältere Kunden und Kinder vorbehielt. Stella mochte sie nicht, denn sie fand, es klang so herablassend. Mit Stella redete sie auch ständig so, aber interessanterweise nicht, wenn Stella den weißen Laborkittel trug. Noch ein guter
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