Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
man nichts mehr aus ihm machen, weil er eben weg ist. Doch zur großen Überraschung seiner Frau fällt dem Schneider selbst dann noch etwas ein: Er macht ein Lied aus der Geschichte des Mantels.
Dieses wunderschöne kleine Volkslied über Kreativität, Tatkraft und eine ordentliche Portion Sturheit fand ich lustig.
Aber ich wollte noch mehr erzählen … Was wäre, wenn der ursprüngliche Stoff nicht ein zerschlissener, alter Mantel wäre, sondern ein schönes Familienerbstück, das von einer Generation zur nächsten wandert, das sich im Laufe der Zeit verändert, das zerfetzt und zerrissen wird und kleiner und kleiner wird und trotzdem alle Erinnerungen der Familien und der Frauen, die es besaßen, in sich birgt?
So nahm meine Version des Volksliedes langsam Form an, und ich merkte bald, dass ich mit dieser Geschichte unbewusst etwas über die Bedeutung von Familiengeschichten erzählen wollte, über unsere Wurzeln und unsere Verbundenheit mit unserer Vergangenheit und den Generationen vor und nach uns.
Als ich mir mein Stück Stoff vorzustellen begann (blauer Seidensatin, bestickt mit Silberbrokat), kam mir der Gedanke, ihn mit einem goldenen Faden zusammenzunähen. Gold und Silber, beides Edelmetalle, das lag nahe. Und sobald ich den goldenen Faden vor Augen hatte, wusste ich, dass er für diese Erzählung absolut perfekt war, denn bildlich gesprochen, zumindest im Englischen, ist ein «goldener Faden» auch etwas, dass zwei Dinge zusammenhält. So ist der goldene Faden, der den ursprünglichen Wandbehang in unserer Geschichte zusammenhält, nicht nur buchstäblich ein goldener Faden von einer Holzspule, sondern er steht auch metaphorisch für den innigen Wunsch der Familie nach Zusammenhalt über Generationen hinweg, und dieser Wunsch durchdringt den Stoff bis in seine letzte Faser.
Aber «goldener Faden» hat auch noch eine andere Bedeutung, die bis in die griechische Mythologie zurückreicht. Es heißt, dass ein Ungeheuer, der Minotaurus, auf der Insel Kreta unter dem Königspalast in einem Labyrinth gefangen war, aus dem niemand entkommen konnte. Lange Zeit wurden einmal im Jahr die schönsten Jünglinge und Jungfrauen Griechenlands in das Labyrinth geworfen und dem Ungeheuer dargeboten, um seinen Hunger zu stillen. Eines Tages jedoch meldete sich ein junger Prinz aus Athen namens Theseus freiwillig als Opfer für den Minotaurus. Er aber wollte den Minotaurus ein für alle Mal töten. Ariadne, die Tochter des Königs, die in Theseus verliebt war, gab ihm ein goldenes Fadenknäuel, mit dessen Hilfe er den Weg zum Minotaurus und wieder aus dem Labyrinth heraus finden sollte, sobald das Ungeheuer besiegt wäre. Und es funktionierte.
Im Verlauf der Jahrhunderte wurde der «goldene Faden» als eine Art Orientierungshilfe verstanden, mit der wir den Weg zu uns selbst wiederfinden, nachdem wir unsere Dämonen bekämpft haben. Er ist unser Leitfaden durch das Rätsel des Lebens, und wenn wir ihm folgen, verbindet er uns mit unseren innersten Wünschen und unseren Liebsten und bringt uns heil nach Hause zurück. Dass die Großmutter in dieser Geschichte ihrer Enkelin den goldenen Faden schenkt, um ihr etwas auf ihrem Weg durchs Leben mitzugeben, gefiel mir. Dass die erwachsene Mutter die Bedeutung des goldenen Fadens erst mal verstehen lernen musste, gefiel mir sogar noch besser.
Ich könnte noch endlos weiter über die Quellen der Inspiration für diese Erzählung spekulieren, warum ich dieses oder jenes geschrieben habe oder woher diese oder jene Idee kam. Doch das könnte die Magie zerstören – für mich und meine Leser. Zur Magie gehört es, dass sie uns zum Staunen bringt. Wenn wir zu viel wissen und zu viel erklärt bekommen, bleibt das Staunen aus. Und das wäre doch schade.
Dank …
… an alle, die mein Werk, während ich daran arbeitete, gelesen und deren Begeisterung und Kritik dazu beigetragen haben: Chaja Böbel, Ina Brox, Noah Delius, Kate Gladstone, Judith Grossmann, Wiebke Hellenbrand, Kathi Porst, Katrin Rüger, Ellen Schwartz und Hannah Volkmann.
… an alle, die ich ausfragen durfte: Patrizia Berhovski, die mir Einblick in die Welt eines jüdischen Mädchens russischer Abstammung im heutigen Deutschland gewährte; Ann-Christin Saas, Historikerin in Berlin, die ein Auge auf die historische Genauigkeit meiner Geschichte hatte; die Pharmazeutin Ariane Plückhan von der Apotheke an der Oper in Berlin-Charlottenburg, die mich hinter die Kulissen einer Berliner Apotheke führte;
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