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Sterben Sie blo nicht im Sommer

Sterben Sie blo nicht im Sommer

Titel: Sterben Sie blo nicht im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kleis
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Einkommen, desto besser lässt sich Pflege delegieren, je geringer das Gehalt, umso höher muss der Eigenanteil an der Pflege sein und umso größer die Gefahr, sich alsbald ganz aus der Berufswelt verabschieden zu müssen. Deshalb: Ja, auch der pflegende Angehörige hat ordentlich Kosten zu stemmen, in jeder Beziehung: zeitlich, finanziell, nervlich, und er hat deshalb das volle Pflegegeld verdient.
    Es gibt ja keine bessere Pflege als die häusliche. Das wissen wir nun nach vier Kliniken und sieben Krankenhausstationen. Das findet meine Mutter auch. Hatte sie auf der Palliativstation praktisch eine Woche lang wie im Tiefschlaf gelegen, ist sie nun erstaunlich munter. Die Augen sind hellwach und sie spricht wieder. In ihrem Haus mit Blick auf ihren Garten wirkt sie mindestens so erleichtert wie wir. Ja, sie hat viele Haare verloren, ihre Haut ist trocken wie Pergament, der ganze Mund voller Entzündungen, sie ist sehr schwach und total abgemagert, aber es ist wunderbar, sie wieder bei uns zu haben. Der Pflegedienst kommt, wäscht sie, macht sie bettfein für die Nacht, verabreicht die Medikamente, schaut nach der Nahrung. Wir lassen uns noch einmal zeigen, wie das geht mit den Windeln. Eine Freundin wird mich später fragen, ob es schwer ist, die eigene Mutter zu windeln. »Ja«, sage ich. »Das ist es. Aber nicht aus den Gründen, die man gewöhnlich im Kopf hat, wenn man als erwachsenes Kind daran denkt.« Meiner Schwester und mir würde es gar nichts ausmachen, wenn es nicht für meine Mutter so schlimm wäre, von ihren Töchtern und auch von ihrem Mann »frischgemacht« zu werden. Aber jetzt ist alles gut. Wir sitzen neben ihrem Bett, halten ihre Hand. Wir sprechen mit ihr. Wir lachen, als sie wie ein junges Mädchen zartrot wird, als wir sie mit ihrem Faible für den jungen Physiotherapeuten in der Reha-Klinik necken.
    Endlich haben wir die Kontrolle. Wir müssen nicht warten, bis sich eine Krankenschwester erbarmt, bis jemand Zeit hat, den Tropfenzähler neu einzustellen, die Windeln zu wechseln, die Haare zu waschen, die Medikamente zu geben. Nicht mehr der Dienstplan diktiert den Taktschlag der Zuwendung, sondern allein die Bedürfnisse meiner Mutter. Wir erlauben uns einen ganz neuen Luxus: Entspannung. Und, ja, wieder eine Perspektive: Mutter soll nun regelmäßig Physiotherapie bekommen. Wir versprechen ihr, dass wir sie bald im Rollstuhl auf die Terrasse fahren werden. Und wenn man das Universum schon wegen freier Parkplätze belästigen darf, weshalb dann nicht auch mit dem Wunsch, sie bei meiner Hochzeit in drei Monaten dabeihaben zu dürfen? Es ist kein Glück, was wir an diesem ersten Abend mit Mutter daheim erleben. Davon sind wir weit entfernt, wenn auch nicht so weit wie noch vor einigen Tagen. Es ist aber ein Zustand, der sich immerhin noch in Sichtweite von etwas befindet, das sich beinahe wie Erleichterung anfühlt. Wenigstens für eine kurze Weile. Bis es Nacht wird.
    Meine Mutter muss regelmäßig umgelagert werden. Alle drei Stunden, so rechnen wir, sollte einer von uns nach unten ins Erdgeschoss gehen und die komplizierte Kissenkonstruktion neu arrangieren. Macht sechs Stunden Schlaf am Stück für jeden von uns. Das sollte gut zu schaffen sein. Ist es aber nicht. Mutter hat Angstzustände. Sie ruft »Hilfehilfehilfehilfe« und »Auauauauauaua«. Stundenlang. Sie klagt über Schmerzen. Fragt man sie, was genau ihr wehtut, was sie braucht, sagt sie: »Nichts.« Sie möchte wohl nur nicht allein sein hier unten im Erdgeschoss. Also legen wir uns abwechselnd auf das Sofa im Wohnzimmer, direkt neben ihr Bett. Trotz endloser Experimente mit der Sondenkost und der Durchlaufgeschwindigkeit der Nahrung leidet sie weiterhin unter Durchfall. Beim Umlagern stellt sich jedes Mal heraus, dass sie neue Windeln braucht (nicht im Sinne des Herstellers der 2-Liter-Windeln, der vermutlich den Außenbordeinsatz von Senioren im Weltall nicht mit regelmäßigen Toilettengängen gefährden wollte). Allein ist es nicht zu schaffen. Jedenfalls nicht für den Pflege-Laien. Ein zweiter muss immer helfen. Mehr als drei Stunden am Stück schläft nun keiner von uns. Das geht eine Nacht, zwei Nächte. Eine Woche lang. Meine Schwester und ich können überall arbeiten, wo ein PC steht und es Internet gibt. Aber nicht im Dämmer ständigen Schlafentzugs. Das Wichtigste aber: Die kurze Zeit, die uns mit Mutter noch bleibt, wollen wir nicht weit jenseits der Grenzen unserer physischen Belastbarkeit verbringen, am Ende noch

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