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Sterben Sie blo nicht im Sommer

Sterben Sie blo nicht im Sommer

Titel: Sterben Sie blo nicht im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kleis
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2020 durchführen ließ. Darin heißt es: »Der Umfang der häuslichen Pflegearbeit wird im extremen Maße unterschätzt.« [93] Könnte sein, dass dahinter Methode steckt, man es gar nicht so genau wissen will. Entgegen der sonst so verbreiteten Manie, alles und jedes statistisch zu erfassen, sind die Daten über diesen Bereich der Pflege eher unzureichend. »Die privat pflegende Person wird amtlich unsichtbar gemacht.« [94] Dennoch weiß man, dass die ›privat pflegende Person‹ im Durchschnitt 36,7 Wochenstunden oder 5,2 Stunden am Tag pflegt. »Der Umfang dieser Pflegearbeit ist so groß, dass dafür die Schaffung von 3,2 Millionen Erwerbsarbeitsplätzen in Vollzeit möglich wäre. Der Wert dieser Arbeit kann mit 44 Milliarden Euro angesetzt werden, wenn man ein mittleres Lohnniveau unterstellt.« Und weiter: »Die Absicherung für diese Arbeit ist völlig unzureichend, denn über die Pflegeversicherung werden pro Tag nur 0,5 bis 1,8 Stunden Pflegearbeit investiert.« [95]
    Man kann seine Arbeitszeit seit 2012 in der sogenannten »Familienpflegezeit« zwar für maximal zwei Jahre auf bis zu 15 Stunden die Woche reduzieren. Sofern der Arbeitgeber zustimmt. Um die finanziellen Einbußen in dieser Pflegezeit auszugleichen, ist eine Lohnaufstockung vorgesehen. Die allerdings muss bei Rückkehr in den Vollzeitjob wieder abgearbeitet werden. Dazu gibt es bei einem familiären Pflegefall Anspruch auf Freistellung von der Arbeitspflicht für maximal zehn Arbeitstage. Der Anspruch besteht aber nur, wenn es sich um eine akut aufgetretene Pflegesituation eines nahen Angehörigen handelt. Außerdem kann man sich – unbezahlt – vollständig oder teilweise für maximal sechs Monate von der Arbeit freistellen lassen. Dieser Anspruch besteht im Unterschied zur kurzzeitigen Arbeitsbefreiung aber nur in Unternehmen mit regelmäßig mehr als 15 Beschäftigten. Bei einer durchschnittlichen Pflegezeit von ca. acht Jahren ist das geradezu lächerlich. Außerdem wird man in dieser Zeit nicht bezahlt und muss zudem fürchten, einen nicht gerade schmeichelhaften Eintrag ins große Klassenbuch der Arbeitswelt zu erhalten.
    Besonders Frauen tragen da ein hohes Risiko. Zwei Drittel der unbezahlten häuslichen Pflegearbeit übernehmen sie, nur ein Drittel wird von Männern geleistet. Hege und Pflege gilt nach wie vor als traditionell weiblicher Tätigkeitsbereich. Kein Prestige und unbezahlt – alles Gründe, weshalb Pflege auf der männlichen Prioritätenliste sogar noch nach »Elternzeit« kommt. Das prägt auch den Umgang mit pflegenden Angehörigen in der Arbeitswelt. In der Regel behandeln Chefs schon die Mutterschaft wie eine Karriere-Verzichtserklärung. Ein Schwerstkranker daheim aber setzt einen noch mehr dem Verdacht aus, man würde die falschen Prioritäten setzen. Einer hochqualifizierten Kollegin, die gerade einen neuen Job angetreten hatte, wird noch in der Probezeit gekündigt. Ihre Mutter war plötzlich schwer an Krebs erkrankt. Um bei ihr im Krankenhaus und später im Hospiz zu sein, stand sie ihrem Arbeitgeber an den Wochenenden und abends ab 19 Uhr nicht mehr zur Verfügung. Das hatte sie bereits beim Vorstellungsgespräch angekündigt. Innerhalb eines Monats wird sie nun zwei Mal bereits mittags in das Hospiz gerufen, weil es so aussieht, als würde ihre Mutter sterben. Obwohl sie weit über die Grenzen der Belastbarkeit noch versucht, die Erwartungen zu erfüllen, verliert sie ihre Stelle. Besonders bitter: Sie hatte auf viel Zeit mit ihrer Mutter verzichtet, die kurz darauf verstarb.
    Sicher, die Arbeitswelt ist kein Ponyhof. Ausgerechnet beim Thema Pflege aber erschwert wohl noch ein weiterer Faktor das Verständnis und das Mitgefühl für die besondere Lage der Betroffenen: dass es quasi zur Arbeitsplatzbeschreibung der Alphatiere in den Chefetagen gehört, sich für unkaputtbar zu halten. Manager und Politiker glauben offenbar, der Tod unterhalte eine Sonderabteilung eigens für sie. Dort wird man kurz nach seinem 150. Geburtstag – also etwa zehn Jahre nachdem man von seinen Mitarbeitern tränenreich verabschiedet wurde – im Schlaf vom Tod geholt. Natürlich haben auch Chefs Eltern, die irgendwann alt und gebrechlich werden, aber sie haben auch die finanziellen Möglichkeiten, deren Sterben in professionelle Hände zu geben. »Neben dem Geschlecht ist vor allem das Einkommen die prägende Dimension gelingender Vereinbarkeit«, heißt es im Pflege-Positionspapier des DGB . [96] Je größer das

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