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Sterben Sie blo nicht im Sommer

Sterben Sie blo nicht im Sommer

Titel: Sterben Sie blo nicht im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kleis
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darüber streiten, wer jetzt dran ist den Urinbeutel zu leeren oder anfangen, Mutters Rufe zu ignorieren, sie nur noch ein winziges bisschen länger als gestern in der vollen Windel zu lassen und es eigentlich gar nicht mehr so schlimm finden, wenn sich ihr Arm versteift, weil sie unbequem liegt, oder nachts einfach die Tür zu schließen, um ihre Rufe nicht mehr zu hören.
    Es ist absolut inakzeptabel. Aber ich kann mir nun immerhin vorstellen, wie es selbst an den allerbesten Vorsätzen zehrt, ganz allein für einen dementen oder anderweitig schwerkranken Menschen zuständig zu sein, der kaum mehr Schlaf braucht als eine Giraffe. Der vielleicht das Essen verweigert, frische Kleidung, der sich einkotet, schreit, todtraurig ist, der weit mehr Unterhaltung will, als das Fernsehprogramm hergibt. Der liebgehabt werden möchte, auch morgens um drei Uhr. Der fast gar nichts mehr alleine kann. Der zornig ist und untröstlich darüber, wie es so mit ihm zu Ende gehen kann. Der immer – das ist vielleicht überhaupt das Schlimmste – da ist und abhängig wie ein Säugling. Der einen nicht rauslässt, aus der Verantwortung, aus seinem Blickfeld und auch nicht aus den Ansprüchen, die man an sich selbst hat, aus der Vorstellung, was einen guten Menschen ausmacht, an der man nun so grandios zu scheitern droht. Menschen revanchieren sich schon für weit weniger mit verbalen Attacken, Verachtung, bis hin zu körperlichen Angriffen. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft schätzt, dass bis zu 10 Prozent der Demenzkranken Opfer häuslicher Gewalt werden. [97] Manche sehen auch keinen anderen Ausweg mehr aus dieser Vorhölle, als sich selbst und ihren Liebsten von dieser Verzweiflung und Einsamkeit zu erlösen als durch Mord und Selbstmord. Ein besonders tragischer Fall ereignete sich in Hessen. Dort musste sich ein Mann vor Gericht verantworten, der seiner Frau erst mit einer Bratpfanne mehrmals auf den Kopf geschlagen und dann zwölf Mal mit dem Küchenmesser auf sie eingestochen hatte. Als sie tot war, versuchte er sich selbst umzubringen, was misslang. Der Hintergrund: Seine Frau war schwer an Darmkrebs erkrankt und nach fünf Operationen, »mit einer offenen Bauchwunde, mit zwei künstlichen Darmausgängen, nach einer Woche im Koma, so dünn, dass ihr die Kleider vom Leib rutschten«, [98] zu ihrem Mann, einem Kioskbesitzer, nach Hause entlassen worden. Dort musste er ihr, die jedes Mal vor Schmerzen weinte, die Wunde reinigen, die Verbände wechseln, die Beutel erneuern. Er sprach mehrmals im Krankenhaus vor und ersuchte dort um Hilfe, wurde aber abgewimmelt. An Heiligabend schließlich wusste er sich nicht mehr anders zu helfen, als ihrem und seinem Leben ein Ende zu setzen. Das alles schilderte der Mann, der seine Frau »sehr geliebt« habe, vor Gericht, wo er sich wegen Totschlags verantworten musste. »Warum kam der Pflegedienst nur sporadisch? Hatte die Frau keinen Hausarzt? Warum ist die schwerkranke Frau überhaupt so früh aus dem Krankenhaus entlassen worden, ohne dass die häusliche Versorgung gesichert war?«, fragt der Frankfurter Chirurg, Autor und engagierte Verfechter einer »Medizin mit menschlichem Gesicht«, Bernd Hontschik. [99] Wer aufmerksam die Zeitung liest, dem werden immer wieder ähnliche Fälle begegnen, Berichte von Menschen, die man alleine ließ mit der viel zu großen Verantwortung für einen anderen. Sicher: Es gibt Lösungen. Aber was hätte der Mann tun sollen? Neben der Pflege seiner Frau und seiner Arbeit noch irgendwie Zeit erübrigen, um in der Politik eine bessere Versorgung durchzuboxen? In einer Situation, in der man als Angehöriger ohnehin schon angeschlagen ist, emotional und physisch? Um alles, wirklich alles, muss gekämpft werden. Und oft merkt man erst, wenn man schon mit dem Köfferchen und einem Schwerkranken die Klinik verlässt, was da auf einen zukommt. So wie eine Freundin, die von einem Tag auf den anderen ihre durch einen Hirntumor vollständig gelähmte Mutter aus der Klinik abholen sollte. Wohin? In welches Umfeld? »Das schaffen Sie schon!«, sagte die Krankenschwester.
    Auch deshalb führt einfach kein Weg an diesem Wohnzimmertisch im Ruhrpott vorbei, an dem ich nun mit Martin, Claudia, Weronika und Ursula sitze. Weronika, die sehr gut Deutsch spricht, erzählt, weshalb Ursula so überraschend schnell zur Verfügung steht. In ihrer aktuellen Pflegestelle würde sie wie eine Sklavin behandelt. Die alte Frau, die sie pflegt, würde sie anschreien und Sachen nach ihr

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