Sterben War Gestern
heute noch vertrauen können, wenn sie nicht wüsste, dass es nur dem Zufall zu verdanken war, dass nicht sie an diesem Samstagmorgen die Zündung ihres Wagens betätigt hatte.
Gregor Mannstein war seinem Leiden inzwischen erlegen. Inge Nowak war diese Gnade nicht vergönnt.
Lautes Schreien drang ihr entgegen, als die Hauptkommissarin sichtlich unausgeschlafen die Treppen zum Foyer hinunterging.
„Daran seid ihr hier alle schuld. Ihr habt meine Frau verrückt gemacht. Niemals hätte sie das getan! Das ist alles nur wegen eurer Scheißtherapie.“ Der kräftige Mann, der das atemlos herausbrüllte und dabei versuchte, sich aus dem Griff von zwei Krankenpflegern zu befreien, schlug wild um sich. „Lasst mich los, ihr Schweine. Ich zeige euch an. Alle. Ihr habt Angela auf dem Gewissen.“
Inge Nowak beschloss, schnell vorbeizugehen. Nur nicht stehen bleiben, sich nicht infizieren lassen von einer fremden Geschichte, nichts wissen wollen, zumachen, abschotten, außen vor bleiben. Auch wenn ihr Kommissarinneninstinkt vermeldete, dass es hier etwas zu ermitteln geben könnte. Sie hatte auf dem Weg zum Frühstücksraum einen Mann und eine Frau durch die Eingangstür kommen sehen, gefolgt von zwei Polizisten in Uniform, und witterte ein Gewaltverbrechen: Diese Art von Auftritt war ihrer Zunft vorbehalten.
Unter den Patienten herrschte eine gewisse Aufruhr. Viele saßen nicht an ihren Tischen, sondern standen zusammen am Buffet, redeten und gestikulierten aufgeregt, alle schienen nur ein Thema zu haben. Als sie schließlich an ihrem Tisch ankam, fand sie einen stillen Ewald und eine bleiche Ellen vor.
„Was ist denn hier los?“, fragte Inge so unbefangen wie möglich.
Ellen schaute auf und es war ihr anzusehen, dass sie geweint hatte. „Angela. Sie ist tot.“
Inge Nowak setzte sich. Derlei Information hatte sie so häufig in ihrem Leben erhalten, dass die nächste Frage automatisch kam. „Wie ist es passiert?“
„Sie ist …“ Weiter kam Ellen Weyer nicht, ihre Stimme brach ab und sie schlug die Hände vor den Mund.
„Man hat ihre Leiche im Raucherraum gefunden“, erklärte Ewald an ihrer Stelle mit belegter Stimme. „Wahrscheinlich hat sie ihn selbst angezündet.“
Inge Nowak wurde schwindlig. Sie musste an einen Fall sechs Jahre zuvor denken. Während der Ermittlungen in einem Mordfall an einer Berliner Pfarrerin hatten sie ganz zufällig den Tod eines Heranwachsenden in den 1980er Jahren aufgeklärt – der Achtzehnjährige hatte sich aus Scham und Angst, bloßgestellt zu werden, mit Benzin übergossen und verbrannt. Sie hatte die Leiche niemals gesehen, nicht einmal auf Fotos in den Akten. Dafür schoss ihr jetzt ein anderes Bild in den Kopf: Johanna. Die Verbrennungen, die Wunden, die Narben.
Nicht schon wieder, dachte sie, bitte nicht.
„Niemals“, flüsterte Ellen Weyer und fixierte Ewald beinahe feindselig. „Angela hätte sich niemals umgebracht. Nicht freiwillig.“
Inge Nowak war versucht zu fragen, wie man sich unfreiwillig umbringen konnte. Stattdessen fragte sie sachlich: „Wie hat man sie denn so schnell identifiziert?“
„Schwester Agathe hat sie erkannt, obwohl sie offenbar schon… na, ja: Die Feuerwehr war wohl ziemlich schnell da und hat gelöscht.“
Plötzlich hallte ein lauter Gongschlag durch den Raum und ließ sämtliche Gespräche verstummen. Der Chefarzt, den Inge Nowak bisher nur von der Klinikwebsite kannte, stand in dem Durchgang der beiden Räume, in denen die Patienten der ersten und die Patienten der zweiten Klasse getrennt aßen.
„Wie Sie sicher schon gehört haben, ist heute Nacht etwas Schreckliches passiert. Auf unserem Gelände ist jemand zu Tode gekommen. Wir werden deshalb heute Morgen alle zuerst in unsere Gruppen gehen und versuchen, mit diesem tragischen Ereignis so gut wie möglich umzugehen.“ Er machte eine kleine Pause und wendete sich abwechselnd nach beiden Seiten. „Bitte beachten Sie auch, dass ein Teil des Geländes abgesperrt ist, und der Raucherraum …“, er holte tief Luft, „also, wer unbedingt rauchen will, macht das bitte auf dem Parkplatz gegenüber. Ihre Therapeuten warten in den jeweiligen Gruppenräumen um 9.30 Uhr. Seien Sie bitte pünktlich. Vielen Dank.“
Nachdem er sich mit einem leichten Nicken in beide Richtungen verabschiedet hatte, blieb es noch einen Augenblick still, die Betroffenheit aller schwebte spürbar im Raum. Stühle wurden vorsichtig über die gesprenkelten Steinfliesen geschoben, es wurde mehr
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