Sterben War Gestern
doch.“ Er grinste. „In welcher Verfassung ist der Ehemann denn inzwischen?“
„Die Identifizierung hat ihn sehr mitgenommen. Er steht noch unter Schock.“
„Was macht er überhaupt hier?“
„Er ist gestern spät in der Nacht angekommen. Er wollte seine Frau übers Wochenende besuchen.“
„Und da kommt er schon Donnerstagabend? Wieso nicht erst Samstag? Hat der Mann nichts zu tun?“
Sylvia Eberstätter atmete unhörbar durch. Sie hoffte nur, dass ihr Chef sich vor den Ärzten und Patienten zusammenreißen würde. Es reichte völlig, wenn sie sich den Unsinn anhören musste, den er verzapfte. Aber die Aussichten standen schlecht. Das Schlimme war, dass Werle genauso dachte, wie er redete.
„Jürgen Esser ist Bauunternehmer und sein eigener Chef. Er wollte ein langes Wochenende mit seiner Frau verbringen. Weil er sich Sorgen um sie gemacht hat, sagt er.“ Sie sah von ihrem Notizbuch auf.
„Scheint ja nicht viel genützt zu haben.“ Erich Werle wandte sich von dem Berg verbrannter Utensilien ab und dem neuen Forensiker zu. Er fragte sich, was der Mann hier zu suchen hatte, wo die Leiche doch schon seit Stunden in der Gerichtsmedizin war. „Wann kriegen wir Bescheid?“
„Wenn wir fertig sind.“
„Und wann wird das sein, werter Kollege?“
Der Mann, den Oberkommissarin Eberstätter erst vor Kurzem beim alljährlichen Polizeisportfest kennengelernt hatte, stand aus der Hocke auf, klopfte sich den Sand von der Hose und antwortete leicht süffisant: „Ich weiß nicht, wie Sie sonst arbeiten. Das ist mein erster Einsatz in Ihrem Revier. Aber ich werde ihn nicht anders durchführen als die vielen, die ich schon hinter mir habe. Und das heißt, Sie müssen ein wenig Geduld haben. Man sagt mir nämlich eine gewisse Gründlichkeit nach.“ Er griff in seine Hosentasche, zog sein Portemonnaie heraus und eine Visitenkarte hervor: „Wenn Sie etwas wissen wollen, bevor ich es weiß, rufen Sie einfach meinen Anrufbeantworter an, ja?“
Werle kochte. Am liebsten hätte er ausgeholt und dem Flegel eine geknallt. Aber er wusste zu gut, dass sein Chef große Stücke auf Hoffmann hielt, er hatte den jungen Doktor aus Hamburg abgeworben und schwärmte von ihm, als wollte er ihn zum Schwiegersohn. Also verkniff er sich jeden unsachlichen Kommentar.
„Es wäre schön, wenn wir die Selbstmordfrage klären könnten, dann dürfte der arme Witwer vielleicht nach Hause fahren.“
„Ich tue, was ich kann. Fritzi könnte schon mehr wissen.“
„Fritzi?“
„Meine Kollegin Frau Götze. Ebenfalls neu hier, auch aus Hamburg. Sie beschäftigt sich gerade mit der Leiche. Ich wollte mich noch einmal im Hellen am Tatort umschauen. Wir arbeiten im Team, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Nein, dachte Oberkommissarin Eberstätter versonnen, er versteht überhaupt nicht, was du meinst.
Natürlich war Inge Nowak wieder aus dem noch kühlen Sand aufgestanden, um in das Klinikgebäude zurückzugehen. Hoffentlich hatte sie niemand gesehen, sie wollte sich nicht durch andauerndes Umkippen einen Namen machen. Überhaupt wollte die Hauptkommissarin nicht auffallen, sondern ihren Aufenthalt in der Klinik möglichst ungesehen hinter sich bringen.
Im Foyer näherte sie sich zum ersten Mal den Schließfächern, ließ ihre Augen über die kleinen metallenen Vierecke gleiten und entdeckte ihre Zimmernummer in der unteren Reihe. Das letzte Mal hatte sie Fächer in dieser Größe in der Raiffeisenbank ihrer Münsteraner Heimat gesehen. Doch diesmal reckte sich nicht die kleine Inge, um den Schlüssel in die Nummer 7 zu stecken und die Kontoauszüge ihrer Großmutter herauszuholen, sondern die längst erwachsene Patientin Nowak musste sich bücken, damit sie ihren Behandlungsplan aus Nummer 101 fischen konnte. An diesem Freitag stand ihr Einiges bevor:
9.30 – 11.00 außerordentliches Gruppentreffen, Raum 4
12.00 – 12.30 Qi Gong am Strand (11.55 Uhr im Foyer)
13.00 – 14.00 Mittagessen
14.30 – 15.00 Massage, Physiotherapie-Räume
16.00 – 16.30 Wassergymnastik, Schwimmbad
Das war Krisenmanagement – man hatte die Situation offenbar gut genug im Griff, um die Behandlungspläne den Gegebenheiten anzupassen. Während sie den Plan studierte, ging sie die Treppen nach unten und bemerkte nicht, dass eine Frau ihren Schritt verlangsamt hatte.
„Na? Schon ein bisschen eingelebt?“
Es war die Patientin, zu der die Hüfte gehörte, an der sie tags zuvor Halt gesucht hatte. Ihren Namen hatte sie bereits wieder
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