Sterben War Gestern
vergessen.
„Hallo. Ja, ein wenig.“ Was sollte sie noch sagen? Eilig ging sie auf den Gruppenraum zu und setzte sich dort auf den ersten Stuhl, der frei war, ohne verhindern zu können, dass die Hüfte sich neben sie setzte. Das bedeutete, das Gespräch war noch nicht beendet.
„Du hast Glück! Die Meyfarth und der Zikowski sind klasse. Sozusagen das Dreamteam der Seerose. Die kriegen auch das hier in den Griff.“
Inge nickte und versuchte dabei freundlich auszusehen.
„Ist es dein erstes Mal?“ Die Frau ließ nicht locker.
„Wie meinst du das?“
„Deine erste Klinik? Bist du zum ersten Mal stationär?“
Inge Nowak blieb die Antwort erspart, denn in diesem Augenblick betraten die beiden Therapeuten den Raum, nahmen zwei Stühle vom Stapel und setzten sich in die bereits vollzählige Runde.
„Guten Morgen.“ Dr. Zikowski schaute ernst in die Runde. „Wir treffen uns heute außergewöhnlicherweise, weil etwas Außergewöhnliches passiert ist. Angela ist heute Nacht gestorben.“
Gestorben, dachte Inge Nowak. Ein Wort, das in ihrer Welt so gut wie nie vorkam. Es wimmelte von Leichen, es wurde gemordet, getötet und erschlagen. Aber niemand schien dabei zu sterben. Die Opfer waren einfach nur tot.
„Ich fände es schön, wenn wir uns erzählen, wie es uns damit geht. Seid ihr einverstanden?“
Verhaltenes Nicken, gesenkte Köpfe.
„Sind denn alle da?“, wollte Dr. Meyfarth wissen.
„Ellen fehlt noch. Sie fährt ja heute“, antwortete Anita leise. „Aber sie wollte sich später noch von uns verabschieden – hat sie doch das letzte Mal gesagt. Oder?“ Ihre Augen waren gerötet, und sie hatte vorsorglich eine Packung Kleenex auf ihren Oberschenkeln positioniert. Weinte sie um Angela?
Angela, dachte Inge. Ich habe noch nie einen Menschen vor seinem Tod nur so kurz gekannt, dass ich nicht mehr von ihm wusste als seinen Namen.
„Ellen kommt bestimmt, ich hab sie vorhin beim Frühstück gesehen. Sie saß ja mit Angela an einem Tisch“, sagte die Hüfte, die zuvor jemand mit Manuela angesprochen hatte.
Betretenes Schweigen.
„Soll ich sie suchen gehen?“, bot sich ein junger Mann von höchstens zwanzig an, den Inge zum ersten Mal wahrnahm.
Nicht mal richtig erwachsen und schon in der Klinik. Inge schüttelte innerlich den Kopf. Kam man in dem Alter nicht von ganz alleine mit seinem Leben zurecht? Boxten sich nicht alle so wie Marit irgendwie durch die Pubertät in die Volljährigkeit und von da ins richtige Leben? Der Junge sah nicht gerade aus, als gehörte er einer benachteiligten Schicht an oder leide unter sozialer Verwahrlosung. Im Gegenteil. In seiner glänzenden Trainingsjacke, einer Markenjeans und mit Sicherheit nicht ganz billigen Turnschuhen hätte er ebenso in einem Schöneberger Szene-Café sitzen können. War er schwul und kam damit nicht klar? Nun schüttelte die Hauptkommissarin den Kopf über sich selbst. Völliges Klischeedenken einer pseudotoleranten Mittelschicht, hätte Marit ihr vorgeworfen. Deshalb kam man nicht hierher. Der Typ musste ein handfestes Problem haben.
„Nein, Mirko, sie wird schon noch kommen. Wir fangen jetzt einfach mal an.“ Roland Zikowski hatte eine ziemlich sanfte, aber bestimmte Art, Entscheidungen zu treffen, fand Inge Nowak und sie war nicht sicher, ob ihr das gefiel. „Möchte jemand beginnen?“
Kollektives Auf-den-Boden-Schauen. Es herrschte jene Stille im Raum, die man aus Klassenzimmern kennt. Die einen sagen nichts, weil sie nichts wissen, die anderen schweigen, weil sie nicht als Streber dastehen wollen. Alle hoffen, dass der Lehrer jemanden aufruft und dass man es nicht selbst ist, sofern man zur ersten Gruppe gehört.
Schließlich machte Jana, eine junge Frau mit feuerroten Haaren und unzähligen Sommersprossen im Gesicht, den Anfang.
„Ich kann das überhaupt nicht fassen. Wir waren gestern noch zusammen schwimmen. Sie war nicht besonders gut drauf, aber sie hat sich total auf ihren Mann gefreut. Dieses Mal wollte er schon früher kommen, also gestern oder heute … Ich dachte echt, es geht ihr besser …“
„Und wie geht es dir selbst, Jana?“
Schwachsinnige Frage, dachte Inge Nowak und rügte sich augenblicklich. Das hier war kein Verhör und es war völlig irrelevant, welchen Eindruck Angela gemacht, ob sie jemals von Selbstmord geredet oder eine Andeutung hatte fallen lassen, dass ihr jemand nach dem Leben trachtete. Es ging gar nicht um die Tote. Es ging um die Lebenden.
„Es macht mir Angst. Wahnsinnige Angst.
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