Sterben War Gestern
sie fühlte sich dabei ertappt, das Wort in Gedanken auszusprechen, als ob ein Unbekannter sie dabei beobachtete und als würde eine Stimme aus ihrem tiefstem Inneren aufsteigen und flüstern: Stimmt doch. Bist du doch.
Wem hätte sie diesen Zettel zeigen sollen? Verónica? Erkner? Berger? Niemals. Zu groß die Scham, die Angst, man könnte merken, wie wenig Respekt sie wirklich verdiente.
All das dachte Inge Nowak innerhalb von Sekunden in dem lichten Raum, in dem sie Roland Zikowski in einem schmalen Ledersessel gegenübersaß. Blitzschnell spulte sich der Film ab, es wurde eng in ihr, das ungute Gefühl des Sich-verstecken-Wollens machte sich unaufhaltsam in ihr breit.
Sie schluckte. „Ich weiß gar nicht, ob ich etwas hätte anders machen können.“ Ihre Finger hielten einander fest. „Sonst hätte ich es ja wahrscheinlich getan.“
„Was denn?“
„Es sagen.“
Es sagen.
Die beiden Worte waren ihr beinahe im Hals stecken geblieben, und nun, da sie ausgesprochen im Raum herumgeisterten, spürte Inge einen Würgereiz, ein Bedürfnis, noch mehr von dem auszuspucken, was tief in ihr vergraben schien. Sie legte die Hand auf die Brust und holte tief Luft.
„Atmen. Tief atmen“, sagte der Therapeut. „Soll ich Ihnen dabei helfen?“
Sie schüttelte den Kopf. Schon vorbei. „Geht schon.“
„Muss gar nicht gehen.“ Er lächelte. „Ich glaube, was Sie gesagt haben, ist ganz wichtig.“
„Was denn?“ Sie erinnerte sich schon nicht mehr. Der Ton im Ohr, der immer mit der Beklemmung kam, überschrie jeden klaren Gedanken.
„Dass Sie getan haben, was Sie konnten.“ Wieder machte er eine Pause und sah ihr in die Augen. Sie hielt ihm stand. „Ich glaube sogar, dass wir immer alle genau das tun, was wir gerade können. Vielleicht ist es nicht immer das Richtige und oft hat es Folgen, die wir nicht voraussehen und schon gar nicht beabsichtigen. Oder haben Sie aus bösem Willen gehandelt?“
„Nein – wie kommen Sie darauf?“ Der Ton im Ohr wurde lauter, sie wollte gehen. Schon wieder einer, der sie in die Ecke drängte.
„Warum fühlen Sie sich dann schuldig?“
„Ich hätte es eben besser wissen müssen.“
„Haben Sie es denn besser gewusst?“ Seine Stimme wurde eine Nuance härter und sein Blick glasklar. „Haben Sie die Zukunft vorausgesehen?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Woher wissen Sie, wie viel von dem, was Sie glauben, verschuldet zu haben, mit Ihnen zu tun hat? Was wirklich passiert wäre, wenn Sie anders gehandelt hätten – ob Sie überhaupt etwas hätten beeinflussen können?“ Er lehnte sich zurück und faltete die Hände. „Darf ich Ihnen einen meiner Lieblingssätze von Bertolt Brecht zitieren?“
Brecht, dachte sie. Wie lange ist das her. Und nickte.
Zikowski richtet sich ein wenig auf und hob mit klarer Stimme an:
„Was geschehen ist, ist geschehen. Das Wasser, das du in den Wein gossest, kannst du nicht mehr herausschütten, aber alles wandelt sich. Neu beginnen kannst du mit dem letzten Atemzug.“
Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie verspürte keine Trauer, doch die Worte rührten sie.
„Wie schön“, sagte sie leise.
„Ja, nicht wahr?“
Einen Augenblick schwiegen sie. Dann sagte Zikowski eindringlich: „Schuld ist der hilflose Versuch, die Vergangenheit dem Jetzt vorzuziehen. Hören Sie auf damit. Kommen Sie im Moment an. Er ist die einzige Zeit, die es wirklich gibt.“ Er sah auf die Uhr und zog spielerisch die Augenbrauen nach oben. „Und schneller vorbei, als man denkt.“
Draußen hupte ein Auto. Der Ton in ihrem Ohr war verschwunden. Plötzlich hörte und sah sie vollkommen klar: Johanna, Verónica, Susanne, Erkner, Berger, Marit, Ewald, Ellen, Sylvia – sie alle waren die anderen. Im Zentrum aber stand sie. Und lebte. Inge Nowak atmete tief ein und aus. Ja, sie war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Heute, jetzt und hier.
Sterben, dachte sie, sterben war gestern.
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