Sterben War Gestern
darüber nachzudenken, was eigentlich aus welchem Grund genau passiert war. Sie lächelte erschöpft, als sie ihre Nachbarinnen sah, ein Lächeln, das Inge Nowak niemals vergessen sollte, denn es war die letzte freundliche Geste, die ihr die langjährige Freundin zuteil werden ließ. Susanne nahm nicht wahr, dass sich Inge und Verónica vor dem behandelnden Arzt auswiesen, sowenig sie in ihrem Zustand begriff, dass die beiden Frauen nicht nur privat hier waren.
Johanna hing an Schläuchen, die in einer stählernen Apparatur voller Monitore, Schalter, Hebel und Knöpfe endeten. Ihr Körper lag unbedeckt auf einer silbrigen Folie, der Blick durch die milchige Scheibe erlaubte nur eine Andeutung dessen, was ein ausgestreckter Mensch auf einem Bett war.
„Ist sie bei Bewusstsein?“, fragte Inge Nowak fast unhörbar.
„Nein. Wir haben sie in ein künstliches Koma versetzt. Und da bleibt sie, bis wir alle nötigen Operationen durchgeführt haben. Wir holen sie erst wieder, wenn wir die Schmerzen unter Kontrolle halten können. Also so in drei bis vier Tagen“, antwortete der Arzt sachlich. „Es sieht schlimmer aus, als es ist. Sie hat wahnsinniges Glück gehabt. Wenn das eine Autobombe war, dann ist sie nicht richtig detoniert.“
Bei diesem Gedanken zuckte Inge Nowak zusammen.
„Sie ist im Moment in einer anderen Welt. Wir verlängern diese Pause, solange es geht, bevor die Wirklichkeit sie wie ein Bumerang einholen wird.“
„Wie lange wird es dauern, bis sie wieder…?“ Inge konnte den Satz nicht beenden. Ihr fehlte jede Vorstellung.
„Wochen, Monate. Das kommt auf ihre Selbstheilungskräfte und ihre Konstitution an. Sie wird einige Zeit hier bleiben müssen. Wir sind spezialisiert auf so etwas.“
„Auf was genau?“
„Brandopfer. Hauttransplantationen. Glauben Sie mir, es hätte sie schlimmer erwischen können. Wir kriegen hier ganz andere Fälle rein. An der Patientin ist ja noch alles dran. Sie hat starke Verbrennungen an den Gliedmaßen, aber sie wird überleben. Füße und Hände sind nur oberflächlich betroffen, Gesicht und Oberkörper kaum – das ist ein wahres Wunder.“ Er blickte auf seine schlafende Patientin. „Und die restlichen Unvorstellbarkeiten vollbringen unsere Chirurgen.“
„Sie war noch nicht angeschnallt, hatte zum Ausparken wohl die Fahrertür noch offengelassen und wurde sofort aus dem Wagen geschleudert“, sagte Verónica leise. „Glück im Unglück.“
„Das erklärt einiges.“ Er schaute auf seinen Pieper, der begonnen hatte zu vibrieren. „Wir werden ihr helfen können, es wird eine Weile dauern, aber irgendwann wird sie nach Hause zurückkehren, es wird erträglich werden und sie wird lernen, mit den Folgen zu leben.“
Der Chefarzt der Abteilung für Brandopfer des Berliner Bundeswehrkrankenhauses hatte aufmunternd gelächelt, aber schon da hatte Inge Nowak gewusst, dass auch in ihrem eigenen Leben nichts mehr so sein würde wie früher. Das war vor gut sechs Monaten gewesen und seither trennte sich die Welt in ein Davor und ein Danach.
Hätte sie die Drohungen ernst genommen, hätte sie es verhindern können. Hätte sie getan, was sie hätte tun müssen, wäre alles nicht passiert. Aber sie hatte die Zettel unter ihrem Scheibenwischer und im Briefkasten verschwinden lassen, hatte Verónica nicht beunruhigen wollen und sich selbst vorgemacht, keine Angst zu haben. Berufsrisiko.
Die Bombe hatte ihr gegolten. Rache für elf Jahre Gefängnis wegen Mordes. Gregor Mannstein, frühzeitig entlassen wegen guter Führung und mit Krebs im Endstadium, hatte vor seinem eigenen Tod nur noch ein Ziel gehabt: diejenige zu quälen, die ihn seiner Freiheit beraubt hatte. In seinen kühnsten Träumen hätte er sich nicht vorzustellen gewagt, wie gut ihm das gelungen war. Denn schlimmer als jede Verletzung und jeder Verlust war die Schuld. Johanna hätte in diesem Jahr ihren Bachelor machen können, wenn Inge verantwortungsvoller gehandelt hätte. Stattdessen befand sich die Sportwissenschaftsstudentin jetzt in einer Spezial-Rehaklinik, um zu lernen, den Ausnahmezustand als Alltag zu akzeptieren. Johannas Mutter wäre schon vor Monaten nach Kanada ausgewandert. Sie hätte den so lange vorbereiteten Neubeginn in der zweiten Lebenshälfte geschafft, wenn Inge nicht einem Konflikt aus dem Weg hätte gehen wollen. Nun verbrachte Susanne ihre Zeit mit der Sorge um ihre erwachsene Tochter, die plötzlich wieder ihre Kleine geworden war. Und schließlich würde Verónica Inge
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