Sterben War Gestern
hier.
Draußen vor der Eingangstür hatte sich eine kleine Menschenansammlung gebildet, Frauen und Männer unterschiedlichen Alters in Trainingskleidung, einige hielten Nordic-Walking-Stöcke in der Hand und unterhielten sich. Der Gedanke, dass auch sie, vielleicht schon morgen, in Jogginghose und Turnschuhen zum Appell antreten, durch Felder und Wälder rennen oder sich Arme und Beine auf Yogamatten verrenken müsste, machte Inge Nowak panisch. Ihre körperliche Verfassung war denkbar schlecht, sie hatte in den letzten Monaten an die zehn Kilo abgenommen, zuletzt hatte sie sich kaum mehr aufraffen können, regelmäßig zu essen. Sie pendelte von ihrer Wohnung ins Kommissariat, vom Schreibtisch zu Tatorten und wieder zurück, um gegen sieben Uhr abends leise durch den Hausflur zu schleichen, möglichst lautlos die Treppen hinauf, schnell vorbei an der Wohnungstür im dritten Stock, betend, dass sie nicht aufginge und die vorwurfsvollen Augen sie nur hinter dem Spion zum Teufel wünschten.
Fünf vor drei.
Inge schreckte hoch, sie musste sich beeilen: Um drei, so war ihr gesagt worden, erwartete man sie in Raum 4 im Untergeschoss zur Gruppentherapie. Sie warf einen schnellen Blick auf ihr Gepäck, für das sie jetzt keine Zeit mehr hatte. Eines musste sie jedoch dringend auspacken und im Safe verwahren, bevor sie das Zimmer verlassen würde: ihre Sig-Sauer P6 samt Munition. Beides unrechtmäßig mitgeführt.
Was tat ein Mensch, bevor er willentlich ein Leben auslöschte? Er ging wieder und wieder den Ablauf durch und vergewisserte sich, an alles gedacht zu haben. Und es gab so viel dabei zu bedenken: den rechten Ort, die rechte Zeit und das geeignete Werkzeug. All das stand an diesem Nachmittag längst fest. Die Tatwaffe lag bereit, die noch fehlenden Hilfsmittel harrten ihrer rechtzeitigen Entwendung, und niemand, absolut niemand, schöpfte Verdacht. Der Mensch, der einen Mord plante, tat die gewöhnlichsten Dinge. Er aß und trank wie jeden Tag um die gleiche Zeit, er erfüllte seine Pflichten und verhielt sich unauffällig. Seine Kleidung wies für Ahnungslose nicht darauf hin, was er vorhatte, denn er würde sich noch umziehen für den Moment, in dem er zur Tat schreiten würde. Sein Wagen war nicht sauberer als sonst, seine Fingernägel gepflegt wie immer, und seine Hände zitterten nicht. Eine gewisse Nervosität war zwar bei genauerem Hinsehen nicht zu leugnen, doch dafür gab es einfachere Erklärungen als eine Tötungsabsicht. Nach außen wirkte er vollkommen ruhig und zeigte keinerlei Auffälligkeiten. In ihm sah es anders aus. Sobald der Gedanke aufkam, er könnte mit dem beabsichtigten Handeln einen Fehler begehen, setzte eine Art Selbsthypnose ein. Der kleinste Zweifel an dem zu Erledigenden wurde noch im selben Moment seines Aufkommens niedergemetzelt, und an seine Stelle traten überzeugende Argumente, die über jede Unsicherheit erhaben waren, mantramäßig wiederholt wurden, bis wieder Klarheit im Kopf herrschte: Es war schlicht und ergreifend der einzige Ausweg.
Als Inge durch die offene Tür trat, saßen bereits Patienten auf einigen der Stühle, die im Kreis aufgestellt waren, unter ihnen Ellen und Angela. Am anderen Ende des Raums führte eine Glastür in den Strandgarten, durch ein riesiges Fenster vom Boden bis zur Decke schien die Sonne und tauchte den hell gestrichenen Raum mit dem honigfarbenen Parkettboden in gleißendes Licht. Inge setzte sich zwischen Glastür und Eingang, zu ihrer eigenen Sicherheit behielt sie die Fluchtwege im Auge.
Nach und nach hatten sich alle einen Platz gesucht, und schließlich betraten zwei Therapeuten den Raum. Dr. Juliane Meyfarth und Dr. Roland Zikowski. Sie, so hatte Inge im Erstgespräch erfahren, war nicht nur Psychologin, sondern auch praktische Ärztin und zuständig für die körperlichen Leiden ihrer Patienten, die ihrer Ansicht nach nur Ausdruck einer kranken Seele waren. Mit ihrem Kollegen würde sich Inge Nowak zweimal die Woche treffen, um, so hatte Juliane Meyfarth zuversichtlich durchblicken lassen, ihre persönlichen Anliegen zu klären. Inge Nowak übersetzte diese Mitteilung so, dass Zikowski für das Reden zuständig sein würde und Meyfarth für die Pillen. Inge war froh, dass die Ärztin nicht viel Zeit gehabt hatte und nach einer kurzen Abfrage, ob sie regelmäßig Tabletten einnehme, kürzlich operiert worden sei oder unter chronischen Krankheiten leide, eine zweite Untersuchung für nach dem Wochenende angeordnet hatte. Ihre
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