Sterben War Gestern
Tageszeitung.“
„Toll!“, hatte Inge bemerkt und gespürt, wie sich etwas in ihr verschloss. Sie traute Presseleuten eher wenig und ging ihnen beruflich lieber aus dem Weg. Öffentlichkeitsarbeit überließ sie grundsätzlich anderen, in ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie ein Interview gegeben. Glücklicherweise hatten sie bereits die anderen Raucher erreicht, die um einen Tisch mit zwei überquellenden Aschenbechern saßen, neben denen diverse Zigarettenpäckchen und Tabakbeutel lagen.
„Wir kriegen Verstärkung“, hatte Ellen Weyer gesagt und auf Inge gedeutet.
Die Männer und Frauen hatten mehr oder weniger freundlich genickt, einer hatte gesagt: „Willkommen im Raucherklub!“, und man stellte sich mit Vornamen vor. Kurz darauf war das unterbrochene Gespräch wieder aufgelebt, und Inge flüchtete, nachdem sie ihre Zigarette nach drei Zügen hastig zwischen einem Berg voller Kippen ausgedrückt hatte, in ihr Zimmer. Die Tatsache, dass draußen ein Meer rauschte, änderte für Inge Nowak überhaupt nichts. Sie war unempfänglich für schöne Anblicke, im Gegenteil, sie versagte sie sich geradezu. Jeder Moment der Freude erinnerte sie schmerzlich daran, dass sie ihn nicht verdiente.
„Soll ich mitkommen?“, hatte Verónica am Bahnhof scherzhaft gefragt.
Am liebsten hätte Inge genickt und geantwortet: „Ja, komm mit mir. Lass mich bloß nicht alleine.“
Doch sie wusste viel zu gut, dass nicht nur sie klinikreif war, sondern dass auch ihre Freundin eine Pause brauchte. Eine Pause von ihr und ihrer Schwermut.
Inge war müde, hätte gern die Augen geschlossen, doch der Schwindel hielt sie davon ab. Seit Wochen spielte ihr Gleichgewichtssinn verrückt, die Welt um sie herum hatte begonnen, leicht zu schwanken. Am Anfang war ihr latent übel gewesen, inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt, dass der Film vor ihren Augen aus den Fugen geraten war, die Leinwand sich von Zeit zu Zeit verschob. Sie versuchte ihren Blick auf einen festen Punkt zu richten, auf ein Schild neben der Parkplatzzufahrt, das sie auf die Entfernung nicht lesen konnte. Wahrscheinlich stand dort: Auf Rauchen steht die Todesstrafe!, und Inges Lust, sich eine Zigarette anzuzünden, war kaum zu unterdrücken.
Verónica wäre sicher etwas eingefallen. Nikotinkaugummis, Akupunkturpflaster oder eine dieser Elektrozigaretten, die man auch im Flugzeug rauchen durfte. Für die gemeinsame Amerikareise hatte sie vier davon im Internet bestellt und Inge war ihr dafür im Flieger um den Hals gefallen. Verónica wäre vorbereitet gewesen, sie kam mit allem besser zurecht. Auch damit, dass Inge mit gar nichts mehr zurechtkam. Inge erledigte ihren Alltag wie eine Art Pflichtprogramm, aß und trank sich leidenschaftslos durch den Tag, kämpfte gegen die Tränen bis zum Abend, bis zu dem Fläschchen, aus dem sie 25 Tropfen auf einen Löffel träufeln durfte, um danach wenigstens für ein paar Stunden in ein schwarzes, traumloses Loch zu fallen. Eine gnädige Pause, um zwei Gedanken zu entfliehen, die sich unaufhörlich in ihrem Kopf drehten: dass sie schuld war und dass sie eine Waffe besaß, mit der sie sich töten könnte, wann immer sie wollte.
Im Inneren von Kriminalhauptkommissarin Inge Nowak herrschte Dunkelheit. Es gab keinen Horizont, an dem eine Sonne aufging. Es war eher so, dass sie unaufhörlich unterging, ein brennender Ball hinter pechschwarzen Bergen, ein Leuchtfeuer der Angst, es war die Katastrophe selbst, die lange Schatten warf, bis zu dem Punkt, an dem sie stand, barfuß, nackt und ohne Ziel. Es gab nichts, worauf sie zuging, nichts, was in der Ferne lag und lockte. Es gab nur die bleierne Schwere in der Luft, die das Herz stolpern ließ und in der Magengrube ein steinernes Gewicht versenkte. So sah sie sich, wenn sie mitten in der Nacht erwachte und keinen Schlaf mehr fand: eine in die Erde gepflockte Figur, schutzlos der Kälte ausgeliefert, die unerbittlich durch das riesige Loch strömte, das die Katastrophe in ihr Leben gerissen hatte. Ihr Zuhause war in schwindelerregender Geschwindigkeit in sich zusammengefallen, aller Schutz mit einem Schlag wie weggefegt, übrig geblieben war nur sie, allein und bis auf die Knochen entblößt. Eine Büßerin, die zugleich ihre eigene Richterin war, unerbittlich und unempfänglich für Vergebung. Sie hatte einen Fehler begangen und würde ihn nie wieder gutmachen können.
Deshalb hatte sie das Gleichgewicht verloren, deshalb rauschte ein Ton in ihrem linken Ohr und deshalb war sie
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