Sterblich
sich in dem weichen Sessel etwas aufzurichten, sinkt aber wieder zurück.
»Ihr Bruder wollte die Polizei gestern nicht in die Wohnung lassen und hat dann auch noch seinen Computer angezündet, bevor er geflohen ist. Wissen Sie, warum er das getan hat?«
Tariqs Augen beginnen, unruhig zu flackern. Er nimmt sich eine weitere Zigarette und steckt sie an. Dann schüttelt er den Kopf.
»Sie haben keine Ahnung?«
Erneutes Kopfschütteln.
»Den Laptop hat nur mein Bruder genutzt. Ich habe meinen eigenen.«
»Und Sie wissen nicht, was er an seinem Rechner gemacht hat?«
»Nein. Das Übliche wahrscheinlich. Surfen. Mails schreiben. Sind wir bald fertig, ich habe gleich eine Verabredung mit einem Kumpel.«
Henning nickt.
»Nur noch eine Frage, dann gehe ich.«
Im selben Augenblick klopft es an der Tür, drei kurze Schläge. Tariq dreht sich überrascht um.
»Ist das Ihr Freund?«
Tariq steht schweigend auf.
»Wenn das ein anderer Journalist ist, knallen Sie ihm ruhig die Tür vor der Nase zu«, sagt Henning und lacht kurz.
Tariq geht nach draußen. Henning kann ihn von seinem Platz aus sehen. Dann öffnet der junge Pakistani in einer raschen Bewegung die Tür.
Henning beugt sich über den Tisch, schaltet das Aufnahmegerät aus und macht sich bereit zu gehen. Er hat das Diktafon gerade in seine Manteltasche gleiten lassen, als er Tariq sagen hört: »Was verdammt …«
Dann wird Tariq von zwei Kugeln mitten in die Brust getroffen.
24
Die Schüsse sind kaum zu hören, aber so schlagkräftig, dass Tariq Marhoni rückwärts gegen die Wand geschleudert wird. Henning registriert die zwei kurzen roten Fontänen, die aus Tariqs Brust dringen, und ist unfähig zu reagieren, bis eine Pistolenmündung in der Türöffnung erscheint. Eine Gestalt tritt in den Flur und sieht, wie Tariq vor der Wand zusammensackt. Dann schießt die Gestalt Tariq eine Kugel in den Kopf.
Scheiße!
Henning versucht aufzustehen, ist aber so tief in dem weichen Sessel versunken, dass er sich unmöglich rühren kann, ohne dass der Typ da draußen es mitbekommt. Er sieht, wie die Pistolenmündung sich um neunzig Grad dreht und auf ihn richtet. Buchstäblich in letzter Sekunde schafft er es, sich nach vorn auf den Boden zu werfen, da wird auch schon die Rückenlehne, genau an der Stelle, wo gerade noch sein Kopf war, durchschlagen, und plötzlich klafft dort ein augengroßes Loch, Schaumgummi und Stofffetzen wirbeln durch die Luft, er hört Schritte und denkt, jetzt ist es aus, jetzt ist es verdammt noch mal aus, ehe es überhaupt begonnen hat, und er blickt sich panisch um, entdeckt eine Tür im hinteren Teil des Wohnzimmers, die in einen anderen Raum führt. Er hat keine Wahl, er muss da rein, stemmt sich auf die Beine und läuft los, so schnell es für einen Mann wie ihn möglich ist, seine Beine arbeiten gegen ihn, er spürt einen stechenden Schmerz in der Hüfte, schafft es aber bis zur Tür und stößt sie auf, als ein kurzes Poff ertönt, Holz splittert, und das Loch im Türrahmen zeigt ihm, dass auch diese Kugel ihn verfehlt hat. Er kommt in ein zweites, kleineres Wohnzimmer mit großem Fenster, untersucht hektisch den Schließmechanismus, dreht den Handgriff, falsche Richtung, drückt ihn andersrum, ohne Erfolg, er rüttelt und zerrt, aber der Griff rührt sich keinen Millimeter, ein Blick über die Schulter bestätigt ihm, dass der Mann noch nicht im Zimmer ist, gleich darauf entdeckt er die Kindersicherung, drückt sie rein und schiebt das Fenster in einer einzigen Bewegung sperrangelweit auf, klettert auf das Fensterbrett und guckt nach unten, es sind mindestens zwei Meter bis zum Boden, und für den Bruchteil einer Sekunde denkt er an den Balkon, auf dem er mit Jonas gestanden hat und von dem er mit ihm zusammen springen wollte, als er jemanden ins Zimmer kommen hört, er rechnet jeden Augenblick mit einem scharfen, lähmenden Schmerz im Rücken, doch noch bevor er darüber nachdenken kann, befindet er sich im freien Fall, hat keinen Halt mehr unter den Füßen, rudert mit den Armen, bis er mit zugekniffenen Augen auf den Boden prallt, seine Knie kollabieren, er fällt vornüber, fängt sich mit den Armen ab, schrammt sich die Handflächen auf, rollt auf die Seite und landet um ein Haar mitten auf der Straße auf den Trambahnschienen, dabei lauert die viel größere Gefahr dort oben, denkt er, hinter dem Fenster, der Kerl braucht nur ein paar Schritte nach vorn zu machen und zu zielen, dann ist alles vorbei. Henning rappelt sich
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