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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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auf, hört ein Auto auf sich zukommen, rennt aber einfach, wobei er die Schmerzen in der Hüfte und im Bein zu ignorieren versucht, er treibt sich selbst gnadenlos an, weiß nicht, wohin er läuft, überall ist Asphalt und Dreck, vor ihm taucht eine Hausecke auf, gelb, er hat keine Ahnung, wo er ist, läuft einfach weiter und schwingt sich um eine Mauer, als zwei Kugeln in schneller Folge in die Hauswand einschlagen. Henning ist jetzt in einer kleinen Gasse, einer Einbahnstraße, das muss die St. Hallvards gate sein, denkt er, was für ein unglaublicher Zufall, wenn er hier sein Ende finden sollte, aber er darf jetzt nicht an seine Mutter denken, jetzt zählt nur, dass dieser Typ ihn nicht kriegt, er rennt weiter, fühlt das Hämmern in seinem Brustkorb, da wird pures Adrenalin in den Kreislauf gepumpt, er hastet an parkenden Autos vorbei, an roten und schwarzen Figuren an den Wänden, als die Straße eine Kurve macht, er folgt ihr, läuft, so schnell er kann, spürt aber seine Beine nicht mehr, es fühlt sich irgendwie merkwürdig an, als wäre sein Körper komplett aus dem Takt geraten, als könnten Bein und Hüfte sich nicht einigen, wer welche Bewegung ausführen soll, aber das ist ihm jetzt egal, er hat nur noch einen Gedanken im Kopf, will so viel Abstand wie nur möglich zwischen sich und den Schützen bringen, der ja auch nicht ewig in der Wohnung bleiben kann, eigentlich müsste er die Polizei alarmieren, aber zuerst muss er sich in Sicherheit bringen und einen Ort finden, an dem er Luft holen und frei reden kann, er sieht eine Grünanlage, » GAMLEBYEN SPORT & FREIZEIT« steht auf einem schwarzen, kunstvoll gearbeiteten, geschwungenen Schild über dem Eingang, er läuft hinein, vorbei an einem roten Kombi, es ist kein Mensch zu sehen, nur schwarze Müllsäcke vor einer Baracke, deren Wände mit Graffiti und Buchstaben übersät sind, seine Schuhe trommeln über den glatten Beton, er sieht Rampen und Halfpipes, ein Skateboard und einen alten Plastikstuhl, das Gelände ist nicht groß, »HIER SIND ALLE WILLKOMMEN!«, steht in krakeligen Blockbuchstaben auf einem Schild über einer blau gestrichenen Wand voller Buchstaben und Flammen in einem wilden Wirrwarr, aus dem Henning nicht schlau wird, ein Satz sticht ihm besonders ins Auge: »Wir passen aufeinander auf, weil das verdammt noch mal kaum ein anderer tut«, er sieht sich um, das Gelände ist eingezäunt, von Bäumen umringt, da entdeckt er das Loch im Zaun, rennt zu der Stelle, schiebt sich hindurch, wobei seine Jacke sich verhakt und aufreißt, bevor er weitertaumelt, zwischen Bäumen und dichtem dschungelartigem Gestrüpp hindurch, vorbei an einem alten verrosteten Kühlschrank, bis er am oberen Ende des Hangs Häuser sieht, ganz nah, und endlich weiß, wo er ist, er läuft weiter zu den Bahngleisen, so schnell er kann, wirft einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob ihm jemand folgt, aber der Schütze ist nirgends zu entdecken, Henning geht hinter einem dicken Baumstamm in Deckung, sackt auf den Boden und schnappt nach Luft.
    Atmen, Henning. Verdammt noch mal, atme!
    Er zieht sein Handy aus der Tasche und wählt 02800, wartet, dass jemand antwortet, und atmet tief ein. Die Antwort kommt schnell. Er nennt seinen Namen und sagt: »Ich muss Kriminalkommissar Bjarne Brogeland sprechen! Es ist dringend!«

25
    An seinem dreizehnten Geburtstag durfte er Der einzige Zeuge mit Harrison Ford und Kelly McGillis in den Hauptrollen ausleihen. Danny Glover hat in diesem Film einen kurzen Auftritt als Mörder. Es dauerte eine Weile, bis Henning sich wieder auf eine öffentliche Toilette traute.
    Obgleich das jetzt zweiundzwanzig Jahre her ist, hat er die Szene nie vergessen, als dem zu Tode verängstigten Amish-Jungen ein Wimmern über die Lippen rutscht und Danny auf der Suche nach einem möglichen Zeugen für den Mord eine Tür nach der anderen aufreißt. Henning muss zugeben, dass er an Danny gedacht hat, als er im Unterholz hockte, die Züge vorbeirasen sah und lauschte, ob er verfolgt wurde.
    Jetzt sitzt er in einem Wartezimmer, das seinem Namen alle Ehre macht. Er wartet. Und wartet. Hat ein Glas Wasser bekommen, aber nichts zu lesen. Denn er soll nachdenken . Wenn der Beamte für die Vernehmung kommt, sollen seine Erinnerungen so gut wie nur möglich sortiert sein, so detailliert und präzise wie möglich.
    Normalerweise ist er sehr präzise, aber jetzt stellt er fest, dass er aus der Übung ist. Er denkt, dass er vielleicht Iver Gundersen und Heidi

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