Sterblich
Kerzenständer mit weißen Kerzen. Ein großer Fernseher, mindestens fünfundvierig Zoll, steht vor der Wand. Und natürlich eine Heimkinoanlage, von Pioneer, mit hohen, schlanken Lautsprecherboxen neben und hinter dem Fernseher. Henning hält nach dem Subwoofer Ausschau, aber vermutlich liegt der unter dem dunkelbraunen Sofa. Wäre er jetzt an der Westküste, würde er tippen, die Einrichtung käme von Bolia oder R.O.O.M.
Der Esstisch ist niedrig und asiatisch inspiriert mit geschwungenen Beinen und einer quadratischen Tischplatte. Der ursprünglich schwarze Tisch ist weiß überstrichen worden. Darauf stehen ein sauberer gläserner Aschenbecher, weitere Blumen und noch ein Kerzenständer. An der vanillefarbenen Wand hängt das Foto einer pakistanischen Großfamilie, wahrscheinlich die Verwandtschaft aus Islamabad. Und in der Ecke des Raums befindet sich ein ovaler Kamin.
Nirgendwo Bilder von Henriette Hagerup.
Die Wohnung verwirrt ihn. Er hat mit einem Loch gerechnet, einem staubigen Dreckstall voller Müll. Doch diese Wohnung ist so sauber, wie es seine eigene schon lange nicht mehr war. Wenn sie überhaupt jemals so sauber gewesen ist.
Er weiß, dass er voller Vorurteile steckt. Aber er liebt Vorurteile, liebt es, sie zu revidieren und seine Standpunkte im Nachhinein zu korrigieren.
Er lächelt, als Tariq auf den Flur tritt. Er hat sich eine schwarze Jeans und ein ebenso schwarzes Leinenhemd angezogen und geht in die Küche. Henning hört ihn den Kühlschrank öffnen und schnell wieder zuwerfen, bevor er den Geräuschen nach ein Glas aus einem Schrank nimmt.
»Wollen Sie ein Glas Milch?«, ruft er.
»Äh, nein danke!«
Milch, denkt Henning. Er war schon bei vielen Menschen zu Hause, aber Milch hat ihm noch niemand angeboten. Er hört, wie ein Glas auf die Anrichte gestellt wird, gefolgt von einem zufriedenen Seufzer. Dann kommt Tariq ins Wohnzimmer und setzt sich ihm gegenüber auf einen Holzstuhl. Er holt ein Päckchen Zigaretten hervor und bietet Henning einen weißen Freund an. Henning lehnt dankend ab und murmelt, dass er aufgehört hat.
»Was ist mit Ihrem Gesicht passiert?«
Die plötzliche Frage überrumpelt Henning, und er antwortet, ohne vorher nachzudenken.
»Vor zwei Jahren ist meine Wohnung ausgebrannt. Mein Sohn ist dabei ums Leben gekommen.«
Er weiß nicht, ob es die brutale Wahrheit ist oder die unsentimentale Art, in der er sie vorgebracht hat, aber Tariq wirkt betroffen, unangenehm berührt. Er will etwas sagen, gerät aber ins Stocken. Ungelenk fischt er eine Zigarette aus der Packung, zündet sie an und wirft das Feuerzeug auf den Tisch. Henning sieht dem viereckigen Höllenwerkzeug nach, bis es neben dem Aschenbecher liegen bleibt.
Tariq mustert ihn lange. Henning sagt nichts, er weiß, dass er Tariq neugierig gemacht hat, er hat aber nicht vor, ihn mit Fragen zu bombardieren. Noch nicht.
»Sie halten meinen Bruder also nicht für schuldig?«, fragt Tariq schließlich und nimmt einen tiefen Zug. Er schneidet eine Grimasse, als schmeckte der Rauch scheußlich.
»Nein.«
»Und warum nicht?«
Seine Antwort entspricht der Wahrheit: »Ich weiß es nicht.«
Tariq schnaubt.
»Und trotzdem halten Sie ihn für unschuldig?«
»Ja.«
Sie sehen einander an. Henning weicht seinem Blick nicht aus, er hat keine Angst vor dem, was seine Augen erzählen.
»Also, was wollen Sie wissen?«
»Haben Sie etwas dagegen, dass ich das hier benutze?«
Er holt ein Diktafon heraus und legt es zwischen ihnen auf den Tisch. Tariq zuckt mit den Schultern.
Er drückt auf Record und lehnt sich im Sessel zurück. Dann legt er sich den Notizblock auf den Schoß und hält den Stift bereit. Ein Aufnahmegerät ersetzt Papier und Stift nicht vollständig. Die Aufnahme kann schiefgehen, sodass es immer gut ist, wenigstens ein paar Stichworte zu haben, um später alles aufarbeiten zu können.
Er kann Tariq ansehen, wie massiv er unter der Festnahme seines Bruders leidet und der Tatsache, dass dieser unter Mordverdacht steht. Bestimmt fragt er sich bereits, wie er das seiner Familie zu Hause erklären soll. Und wie seine Freunde reagieren werden. Die ganze Gang.
»Was können Sie mir über Ihren Bruder erzählen?«
Tariq sieht ihn fragend an.
»Mein Bruder ist ein guter Mann. Er hat immer auf mich aufgepasst, hat mich hierhergeholt, weg aus Islamabad, raus aus dem Slum und der Kriminalität. In Norwegen kann man gut leben, hat er gesagt. Er hat mir den Flug bezahlt und mir einen Ort zum Leben
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