Stern der Göttin
den Stoff noch einmal durchgehen.«
Ein unterdrücktes Kichern antwortete ihm. Ein Teil der Schüler hatte bereits vor dem Unterricht beschlossen, nach Schulschluss einen Ausflug in die Unterstadt von Thelan zu machen und sich dort guten, thilischen Wein schmecken zu lassen. Der Rest würde jedoch lernen, denn alle hofften auf eine Auszeichnung, die es ihnen ermöglichte, in der Verwaltungshierarchie ihrer Heimatländer ganz hoch aufzusteigen.
Khaton war im Grunde gleichgültig, was sie taten, auch wenn er als dritthöchster der Professoren von Thelan dafür zu sorgen hatte, dass sich die Jungen und Mädchen an die altüberlieferte Schulordnung hielten. Er wartete, bis das Klassenzimmer leer war, nahm die abgegebenen Arbeiten unter den Arm und verließ ebenfalls den karg wirkenden Raum.
Auf dem Gang begegnete er zwei Kollegen. Die Männer verbeugten sich ehrerbietig, denn als Dritter in der Hierarchie stand er in hohem Ansehen, und sein Rat wurde häufig gesucht. Nicht wenige schrieben die Tatsache, dass er noch nicht die Nummer Zwei oder gar der Rektor der Schule war, seiner Herkunft zu. Anders als die meisten entstammte er keiner der alteingesessenen Professorenfamilien, sondern war ein Fremder, der vor etwas mehr als zwanzig Jahren als einfacher Lehrer in Thelan begonnen und rasch Karriere gemacht hatte.
»Der ehrenwerte Herr Valgrehn sieht noch genauso aus wie damals, als er hier angekommen ist. Glaubt mir, er hat sich um keinen Deut verändert«, hörte Khaton im Vorbeigehen einen der Lehrer leise zu dem anderen sagen.
Diese Worte schockierten Khaton, und er tadelte sich sofort selbst. Er hätte unbedingt darauf achten müssen, im Lauf der Zeit älter zu erscheinen. Als Hochmagier war er daran gewöhnt, einen Mann mittleren Alters darzustellen, doch normale Menschen maßen einander nach ihren Erfahrungen, und da fiel jemand, der nicht alterte, früher oder später auf.
Auf seinem weiteren Weg vermied Khaton es, anderen Leuten zu begegnen. Während er seinem Domizil zustrebte, streifte sein Blick die Mauern der Schule. Der warme, weiß schimmernde Marmor war in Zeiten gebrochen worden, als an dieser Stelle noch Eirun und Kriegsmagier aus den westlichen Götterreichen den Nachwuchs für die Verwaltung ihrer Heere ausgebildet hatten. Wenn er die Augen schloss und sich ganz seinen magischen Sinnen hingab, spürte er noch ein fernes Echo aus jenen Tagen. Die Oberstadt, wie die Schule genannt wurde, war in einem Stil erbaut, der den Menschen fremd geworden war. Ohne recht zu wissen warum, trat Khaton an eines der großen Bogenfenster, öffnete es und blickte auf die Unterstadt hinab, deren verwinkelte Gassen zwischen den mit hellem Schiefer gedeckten Fachwerkhäusern jeder geometrischen Ordnung Hohn sprachen.
Dieser Teil stammte aus neuerer Zeit und wurde von Handwerkern und Bauern bewohnt, die die Schule mit allem Lebensnotwendigen versorgten. Nur selten erhielt einer von ihnen die Gelegenheit, hier zu studieren, und noch seltener rückte einer der Unterstädter in den Lehrkörper der berühmten weißen Universität von Thelan auf. Dabei hätte Khaton auf Anhieb mehrere Dutzend Männer benennen können, die besser dafür geeignet gewesen wären, die Jugend aus den weißen und manchmal auch aus grünen oder gelben Reichen zu unterrichten, als die meisten der jetzigen Lehrer. Um etwas zu ändern, hätte er jedoch selbst die Macht in Thelan ergreifen müssen, und das würden die Könige und Fürsten der weißen Reiche niemals dulden.
Verstimmt, weil er an diesem Tag nur an die Einschränkungen und Widrigkeiten denken konnte, mit denen er sich herumschlagen musste, schloss Khaton das Fenster und ging weiter zu dem kleinen Häuschen, in dem er einige Zimmer bewohnte. Das Gebäude war im Fachwerkstil auf einem früheren Befestigungsturm errichtet worden, der seine Bedeutung verloren hatte, als die neue Wehrmauer gebaut worden war, welche auch die gesamte Unterstadt mit einschloss. Der noch stehende Teil des Turmes diente zum großen Teil als Keller. Während Khaton seine Wohnung im unteren Geschoss des Häuschens hatte, bewohnte seine Vermieterin, die Witwe eines früheren Lehrers der Schule, die Räume direkt unter dem Dach.
Frau Ketah empfing ihn wie meistens schon an der Haustür. Obwohl sie zu dem einheimischen Menschenschlag zählte und beinahe zwei Köpfe kleiner war als er, hatte sie in der ersten Zeit gehofft, ihn zu ihrem zweiten Ehemann machen zu können. Khaton hatte sein ganzes Geschick und sogar ein
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