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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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seiner gewaltigen Konstitution, explosiven Gesundheit und dem aus diesen Voraussetzungen notwendig resultierenden Triebleben konnte es einen wahrhaftig nicht wundernehmen. Der Arbeiter, mit seinen zweiundzwanzig Söhnen (Zahl der Töchter unbekannt), zweihundertzweiundvierzig Enkeln (Zahl der Enkelinnen unbekannt) und eintausenddreihundertundzehn Urenkeln (Zahl der Urenkelinnen unbekannt), war, wie sein ganzer Clan, ein atemberaubender Ausnahmsfall auch in dieser Beziehung und schämte sich gar nicht, es zu sein. Ich brachte nach und nach folgendes heraus: Es war ein gesetzlich festgelegtes Vorrecht jeder Braut – ein Vorrecht, welches sich in den letzten Generationen zur zeremoniellen Pflicht entwickelt hatte –, daß sie am zweiten Tage, dem Rüsttag ihrer hohen Zeit, im Parke des Arbeiters einen jungen Mann zum Tanze wählen und zur Begleitung befehlen konnte. Dieser junge Mann (aus dem Chor der Stutzer und Gecken) hatte zwei Stunden lang ihr Ehrenkavalier zu sein, so lange nämlich, als der Tanz und das ihm folgende Picknick dauerte, welches unmittelbar an der Quelle aller guten Dinge eingenommen wurde. Der Ehrenkavalier vom Dienst durfte jedermann sein außer dem Bräutigam. Sämtliche Fiancés waren durch das Gesetz ausdrücklich von dieser Zeremonie ausgeschlossen, die auf archaische Zeiten zurückging und von manchen Historikern noch in die Zeiten vor der Sonnentransparenz zurückverlegt wurde. Der schöne, freimütige Brauch mußte am Ausgang einer polyandrischen Epoche entstanden sein, in der die Frauen, die einen Männerharem hielten, die Rückkehr zur strengen Einehe als schweres Lebensopfer empfanden. Noch einmal, nachdem die geregelte Entscheidung bereits getroffen ist, den Anschein der freien Wahl wahren, das ist’s! Noch einmal so tun, als stünde der Weg frei dem Zufall, ihm, dem Gott der Liebe selbst, der sich nach dem ersten gelungenen Kuß als ewige Vorbestimmung der Seelen entpuppen will. Freitanz und Damenwahl, der letzte Schatten, den die unstillbare Sehnsucht nach Ungebundenheit wirft.
    Die rhythmisch hold bewegte Mauer der Bräute hatte sich uns genähert. Die taubengrauen Gewandschleier wogten in einem kurzschrittig vorwärts- und zurückzögernden Tanz. Darunter leuchteten die hellen, jungfräulichen Leiber im keusch gedämpften Tag. Ich fragte mich, ob wohl meine Hausgenossin Lala sich unter diesen auserwählten Tänzerinnen befinde. Die Mädchen aber waren für mein ungeübtes Auge alle so ähnlich, daß ich keins von dem andern unterscheiden konnte. Ich fühlte die dichte Nervosität, die sich der jungen Männer mehr und mehr bemächtigte. Da es ihrer zweimal so viel als Bräute gab, so würden hundert Ehrenkavaliere ohne Verwendung entweder als blamierte Mauerblümchen zugucken oder mit erkünstelten Spötteleien abziehen müssen. Die eitle Angst, die ängstliche Eitelkeit der Stutzer lag wie ein Nebelschauer auf der durchsichtigen Luft der malachitgrünen Mulde. Nach welcher Musik, fragte ich mich, tanzen diese Bräute ihr Ballett, das so sonderbar an hochveredelte Eingeborenentänze erinnert? Bei so viel mentalem Fortschritt, wieviel Urmenschentum, das immer und ewig übrigbleibt. Was war das? Ich hörte keine Musik. Ich entdeckte aber plötzlich, sehr weit von meinem Standort, eine Art von melancholischem Savoyardenknaben mit einer Drehorgel (siehe immer wieder das Billard in Io-Dos Vorzimmer), die ganz und gar echtes neunzehntes Jahrhundert zu sein schien, doch trotz angelegentlichen Geleiers keinen Laut von sich gab. Erst allmählich begann ich in der großen Stummheit, in der Absenz der Musik, die Musik zu spüren, welche den Gliedern der jungen Mädchen Rhythmus gab. Neben dem Leierkastenmann stand der Einfältige dieses Zeitalters, diesmal nur von einem kleinen Wirbel seiner Capricornetten umgeben, und blies mit rotaufgeplusterten Wangen in seinen tonlosen Dudelsack. Wenn er dann und wann mit tränenden Dunkelaugen den Lederschlauch absetzte und die tanzende Brautmauer bestarrte, streckte er unbeherrscht die Arme den Mädchen entgegen, und ich fühlte sein zügelloses, ewig ungestilltes Begehren.
    Der Arbeiter hatte mich nach einigen mißgestimmten Lautverdrehungen und Reimen, die sich immer noch mit den Gecken und Stutzern befaßten, allein gelassen. Wurde doch heute, außer seiner Alltagspflicht, eine ganze Menge Mehrarbeit von ihm gefordert. Er mußte die irdischen Quellen und himmlischen Kräfte durch geschickte Handgriffe auf die höchste Tourenzahl bringen und daneben

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