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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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diesem Fall, Seigneur«, lächelte Lala mich zum erstenmal voll an, »werden wir Walzer tanzen.«
    »Aber wie?« zögerte ich, »und woher die Musik?«
    »Die Musik ist schon unterwegs«, sagte Lala, »Sie müssen nur gut in sich hineinhorchen, Seigneur.«
    Ich schloß gehorsam die Augen, um gut in mich hineinzuhorchen. Und wirklich, Lala hatte recht, die Musik war schon unterwegs, und zwar in mir selbst. Es war eine ganz dünne, unendlich alte, hüpfend spieldosenhafte Walzermusik, die sich ohne erkennbare Tonquelle – der stumme Leierkasten, der stumme Dudelsack waren gewiß nur Attrappen – in meinem Innern immer deutlicher entwickelte, um ihren Dreivierteltakt schließlich unwiderstehlich den Gliedern mitzuteilen. Und meiner Tänzerin ging’s nicht anders als mir, denn ohne daß wir es recht merkten, drehten wir uns schon zum Walzer. Das schönste aber war, daß mir dieses Drehen gar keine Anstrengung verursachte, gleichgültig ob nach links, ob nach rechts, hatten doch die Quellen und Kräfte der Malachitmulde das spezifische Gewicht des Körpers verringert. Es war weitaus der beglückendste Tanz meiner bewußten Existenz, einschließlich der vergangenen drei- undfünfzig Jahre meines Lebens. Das Wort Tanz ist zu schwach, es war der Inbegriff eines leichten Schwebens meiner selbst, in welches sich ein anderes, noch leichteres Schweben einschmiegte, ein Doppelschweben also. Ich bemerkte kaum die andern Paare und Quadrillen, die sich um uns zu den verschiedensten Rhythmen umher bewegten. Wie seltsam, daß all diese verschiedenen Rhythmen in demselben Leierkasten ihren Ursprung zu haben schienen, und daß zugleich die Polyrhythmik nicht unorganisch wirkte. Aber was gingen mich die andern an? Im hingegebenen Schweben verstand ich, was mir bei Lebzeiten fast unbekannt geblieben war, welch ernsthaftes, ja feierliches Geschäft der echte Tanz ist. Nach einigen Minuten blieb Lala stehen, ohne sich von mir loszulösen. Mit der charakteristischen Empfindlichkeit älterer Herren argwöhnte ich sogleich, das Mädchen wolle meine schwachen Kräfte nicht überanstrengen. Sie aber schien etwas ganz andres im Sinn zu haben, da sie mir folgendes Geständnis machte: »Ich habe gestern häßlich von Ihrer Hand gesprochen, Seigneur. Es war nicht bös gemeint. Ich habe mich nur so sehr über Ururgroßmama geärgert …«
    »Madame ist eine sehr bedeutende Persönlichkeit«, entgegnete ich anerkennenswert trocken, denn ich mußte mich zurückreißen, um nicht einen brennenden Kuß auf Lalas Hand zu drücken. Ihre Worte bewiesen mir, daß sie erkannte, warum ich vorhin die Handschuhe angelegt hatte, daß sie die Ahnfrau verantwortlich machte und nicht mich, und daß sie schließlich der Berührung gestern nicht feindselig gedachte. Wie glücklich war ich, als wir unsern Tanz wieder aufnahmen. Da bemerkte ich, daß uns der Einfältige des Zeitalters schon eine ganze Weile folgte. Er hielt den Dudelsack weit vor sich, ohne zu blasen. Sein Gesicht war verzerrt und seine Augen blinzelten. Ich fühlte, wie er mich beneidete, mich, der ich doch noch rechtloser und ausgeschlossener von den Gütern des lebendigen Lebens war als er. Noch jetzt weiß ich nicht, warum ich, mir selbst zum Tort, folgende Worte zu meiner Tänzerin sprach:
    »Hier ist einer, der sein Leben darum gäbe, an meiner Stelle zu sein.«
    »Nur einer, nur dieser?« fragte sie, und ich wußte sofort, daß ich einen unmöglichen Faux pas begangen hatte. Nach einer Weile sah mich Lala sonderbar an und fragte höflich:
    »Wünschen Sie, daß ich mit dem Einfältigen des Zeitalters tanze?«
    Ich war zuerst sprachlos über diese Idee.
    »Wie kann ich wünschen«, knirschte ich, »daß Sie mit irgendwem tanzen, Lala, obschon oder gerade weil jeder andere mehr Recht dazu hat als ich?«
    »Wenn Sie es wünschen, Seigneur«, insistierte Lala mit dem nachdrücklichen Eigensinn, den ich schon an ihr kannte, »wenn Sie es wünschen, werde ich auch mit dem Einfältigen des Zeitalters tanzen, denn …«
    Plötzlich unterbrach sie sich mitten im Satz und im Wechselschritt, löste die Hände von mir und trat ein wenig zurück. Ich war überzeugt, daß ich sie ernstlich gekränkt hatte. Desperate Verständnislosigkeit erfaßte mich wie immer, wenn ich einer Frau etwas »angetan« hatte, ohne recht zu wissen, was. Genügte es nicht, wenn eine Frau wegtrat, den Kopf heftig zur Seite wandte, die Lippen zusammenpreßte und an Tränen würgte, ob ich da zehnmal im Recht war oder nicht?

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