Stern der Ungeborenen
Krankenbetten, die man mit Tüchern verhüllt, vergaß ich, wo ich war und merkte nicht, daß Minjonman hinter meinen Lehnstuhl getreten war. Plötzlich flüsterte er mir scharf von hinten ins Ohr:
»Glauben Sie ihnen nicht. Ich kenne sie alle. Und
wie
ich sie alle kenne. Glauben Sie keinem. Ich warne Sie!«
Vor dieser Stimme fuhr ich zusammen. Soeben hatte ich noch in Saul Minjonman das unzerbrechliche Gefäß der Hoffnung bewundert, ihn, der an das Kommen des Erlösers glaubt, obwohl er von seinem Nichtkommen überzeugt ist, ihn, der die nackte Zeit des Wartens zur frommen Zeit macht, als ich plötzlich auf den gegenteiligen Saul Minjonman stieß, einen Hochnervösen und Hochungeduldigen, der wie ein erstickender Fisch im Netz des Zeitablaufs zappelte.
»Wissen Sie, Doktus, wann unser Unglück begann?« fragte er mit beinahe irren Augen. »Als die Menschen dummerweise anfingen, ihre Schriften von links nach rechts zu richten anstatt wie wir von rechts nach links. Da verkehrte sich für uns das Leben. Hören Sie gut zu: Die Griechen nannten das Leben Bios. Wir aber mußten verkehrt lesen Soib oder Sob, was bekanntlich ›Schluchzen‹ heißt. Als wir später fast zweitausend Jahre unter den Germanen siedelten, lasen wir Leben umgekehrt als ›Nebel‹, also Qualm und Dunst, und es stimmte genau. Dann entführte uns Gott durch das Mittel einer gewaltigen Verfolgung in die weltbeherrschenden Reiche der englischen Sprache. Sie können sich selbst umdrehen was wir lasen, wenn wir auf das Zeitwort to live stießen …«
»Es ist mir bekannt, daß evil das Übel, das Böse bedeutet«, sagte ich gehorsam, ließ ihn aber nicht mehr zu Worte kommen aus Furcht, ich würde noch fünfzehnhundert andere Vokabeln für Leben umdrehen müssen.
»Vor wem warnen Sie mich«, fragte ich ziemlich scharf, »wem soll ich nicht glauben? Dem Großbischof etwa?«
»Großbischof hin, Großbischof her«, murmelte Minjonman und duckte sich in seinem Lehnstuhl zusammen.
»Ich meine alle Jene. Ich meine jene Alle …«
Jetzt hatte er wirklich die Augen des biblischen Saul, der vom nächtigen Geiste zerstört wird. Mit einer übergroßen Gebärde schien er die ganze Welt von sich zu drängen. Mit einem Mal aber bäumte sich’s in diesen Augen auf, wie ein Pferdegespann vor einem Blitz. Minjonman starrte auf die Tür:
»Und glauben Sie auch ihm nicht«, murmelte er, »und seien Sie auch vor ihm gewarnt, obwohl er ein bedeutendes Goldköpfchen ist.«
Die dunkle Tür öffnete sich.
Saul Minjonman hatte seine ironische Traurigkeit sofort zurückgewonnen, als er den Eintretenden vorstellte:
»Io-Joel Hainz, mein ältester Sohn, kein Minjonman, denn er hat sein Erstgeburtsrecht abgetreten, und zwar um weniger als ein Linsengericht.«
Was mir zuerst an dem jungen Mann auffiel, der sonderbar genug aus irgendwelchen vergessenen Traditionsgründen auf den preußisch forschen Namen Hainz hörte, war die Tatsache, daß er nach der allgemeinen mentalen Mode gekleidet ging, die den nackten Leib verwischt durchschimmern ließ, und nicht etwa einen über den Kopf gezogenen Mantel trug wie sein Vater und die andern Mühseligen und Beladenen zwischen den beiden Torruinen der »Ehemaligen Unterstadt«. Er hatte sogar einen jener schmalen, schöngewellten Goldaufsätze aus leuchtendem Material über den Kopf gestülpt, wie die Jugend sie im Gegensatz zu den barocken Perücken der höheren Jahrgänge bevorzugte. Neben einer ausladenden Stirn und kurzsichtig verkniffenen, beinahe wimpernlosen Augen, die geradezu nach scharfen Gläsern schrien, war es eine sonderbar forcierte Farblosigkeit und erkünstelte Indolenz, die den jungen Menschen charakterisierte. Ein extrem Assimilierter, dachte ich, der auf der Hut sein muß, der seinen Emotionen Zügel anzulegen gewöhnt ist. Was für Emotionen aber? Es war für mich nicht schwer, hinter der betonten Farblosigkeit der Fassade den gequälten Hochmut, den verbissenen Willen zur Überlegenheit zu entdecken, wie er nur aus der Wurzel eines beinahe schon physiologischen Gekränktseins aufschießt. Warum war Io-Joel in den Tiefen seines Wesens gekränkt? Sein Vater war es nicht. König Saul war ein wenig schwermütig, ein wenig spöttisch und dann und wann salbungsvoll. Er zeigte keinen Hochmut, sondern nur den Stolz dessen, der eine Absonderung freiwillig auf sich nimmt. Io-Joel Hainz hatte allem Anschein nach diese Last abgeworfen, um eine andere aufzunehmen. Wohnte er überhaupt noch im Hause seines Vaters,
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