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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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absonderliches Rückgreifen der Natur, inklusive des menschlichen Phänomens, auf überwundene Zustände. Ich verstehe nicht, inwiefern säuisches Getümmel auf ehemaligem Sumpfboden, Hühnerhöfe, Jahrmarktsbuden, Ringelspiele und dergleichen mehr Stützpunkte der gesellschaftlichen Erneuerung sein können. Ich fürchte mich nicht vor dem Worte ›reaktionär‹. Es kann unter Umständen etwas recht Sympathisches ausdrücken. Ich sehe aber nicht ein, warum jene Ringelspiele weniger reaktionär sind als zum Beispiel die schönen Lehnstühle, auf denen wir hier in Ihres Vaters Haus sitzen? König Saul und König David und alle Cäsaren und späteren Kaiser saßen auf Thronen, die Päpste alle, und auch gewiß der heutige Papst, sitzen auf der Sedia gestatoria, und selbst Gott der Herr wurde von den Malern beim Jüngsten Weltgericht sitzend, also in gebrochener Linie dargestellt. Wenn Sie den Mentalismus überwinden wollen, warum erkennen Sie ihn dann gerade in diesem einen mehr oder weniger snobistischen Detail an, das die gebrochene Linie für eine reaktionäre Haltung ansieht?«
    »Da hör nur zu, wie er’s dir gibt«, kicherte Minjonman entzückt.
    »Und warum wollen Sie überhaupt den Mentalismus überwinden?« fragte ich zum Schluß.
    »Alles was ist, muß überwunden werden, damit das Neue sein kann«, dekretierte der Sohn. Und diesmal klang’s nicht ganz sicher, und der kühle junge Mann erschien unreif.
    »Ein scharfes Goldköpfchen«, murmelte König Saul, und man konnte nicht wissen, ob’s Lob war oder Spott. Ich aber nahm die Schwäche des Gegners wahr:
    »Was Sie da gesagt haben, ist ein inhaltsloser, rein formalistischer Grundsatz, der die Tatsache des leeren Nacheinanders zum moralischen Wert erhebt. Dieser Grundsatz wurde schon zu meiner Zeit von dem eitlen, faulen und gefühllosen Pack der politischen und künstlerischen Bohème erfunden. Es waren jene Leute, die alles leicht überwunden haben, was ihrer Eitelkeit im Wege stand, nur sich selbst nicht.«
    »Haben Sie ähnlichen Grundsätze nicht auch gehuldigt, Doktus und Seigneur, vor mehr als hunderttausend Jahren?« fragte Io-Joel, der seine aufreizende Apathie wieder voll zurückgewonnen hatte.
    »Leider«, versetzte ich nach einigem Zögern ziemlich betroffen, »leider, wenigstens eine Zeitlang. Doch ich bin überzeugt davon, daß wir zu unsren Zeiten mit größerem Recht Revolutionäre waren. Damals beutete der Mensch den Menschen erbarmungslos aus. Man lebte, wenn man ein Herz besaß, nicht viel länger als fünfzig Jahre. Sehr viele erreichten aber nicht einmal dieses Alter, denn immer wieder wurden sie in den Krieg gejagt, und wenn sie krank waren und mit Frauen und Kindern daheim blieben, verendeten sie unter den Trümmern ihrer Häuser oder auf den Landstraßen umherirrend an Hunger und Seuchen. Heute aber …«
    Und ich begann, wie ich’s schon einige Male mit mehr oder weniger Verve getan hatte, das Lob der astromentalen Welt und ihrer Errungenschaften zu singen. Io-Joel wandte den kurzsichtigen Blick seiner blassen Augen nicht von mir und ließ mich erbarmungslos zu Ende sprechen. Dann erst fragte er:
    »Somit also war’s das Mitleid mit den Menschen und die Empörung gegen ihre Quäler, weshalb Sie die bestehenden Zustände in Ihrer Jugend bekämpften, Doktus und Seigneur?«
    Ich bekenne, daß mich Minjonmans Sohn unsicherer gemacht hatte als ich ihn:
    »Ein Teil unserer revolutionären Gesinnung«, erwiderte ich zögernd nach einer Pause, »beruhte gewiß auf sentimentalen und generösen Empfindungen, in denen wir uns mit dem Hochmut, bessere und höhere Menschen zu sein, eitel sonnten. Der gehässige Hauptimpuls von uns Revolutionären aber gründete sich auf die dunkle Empfindung des verwehrten Lebensanspruchs, unter dem so viele junge Leute litten.«
    Joel-Hainz faltete mit deprimierender Geduld die Hände zusammen, während Rembrandts König Saul uns neugierig betrachtete, als lieferten wir ein Wettspiel.
    »Verzeihung, Doktus und Seigneur«, fragte der Sohn mit unveränderlicher Höflichkeit, »ist Ihre Kenntnis der astromentalen Welt so umfassend, daß Sie diese für endgültig und unverbesserbar erklären? Glauben Sie etwa, weil Essen und Trinken kein Problem mehr ist, und weil man nicht mehr auf schmutzige Weise dahingeht, daß nicht auch wir an vereiteltem Lebensanspruch leiden?«
    »Ich sehe nirgends«, versetzte ich heftig, »die politische Macht oder Einrichtung, die man für diesen vereitelten Lebensanspruch zur

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