Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
Saul quirlte die Milchspeise mit dem Holz, so daß sie immer dicker wurde und zu schäumen begann. Währenddessen sprach er träumerisch vor sich hin:
    »Wissen Sie, was unsere Weisen von der Milch sagen? Was für ›Erez‹, die unbeseelte Natur, das Quellwasser, das ist für ›Odom‹, die beseelte Natur, die Milch. Sie ist das Quellwasser des atmenden Lebens. Und wissen Sie, was sie vom Honig sagen? In ihm, in diesem zusammengetragenen Blühen der Erde, gibt Gott uns den Gedanken zu essen, der ihn bewog, den Sommer zu schaffen …«
    König Saul hob die Hände über die Speise und murmelte den vorgeschriebenen Segensspruch, der noch tiefer in die Anfänge der Menschheit zurückreichte als ich selbst. Dann schob er die Schale vor mich hin und gab mir den kleineren Holzlöffel in die Hand. Mir war aber ganz feierlich zu Mute, als ich den süßen, honigdurchsetzten Schlagrahm zu kosten begann, und ich fühlte mich wie ein Konfirmationskind. Auch verstand ich plötzlich zum erstenmal den tiefen Sinn der religiösen Speisegesetze, den Sinn der »Reinheiten« und der »Unreinheiten«, und daß die Aufnahme von Nahrung die Einverleibung göttlicher Schöpfungsgedanken durch die menschliche Natur sein sollte.
    Minjonman sah mir befriedigt zu, wie ich dem Genuß mich hingab. Er wollte nicht stören, er redete nicht zu mir, sondern wartete, bis ich meinerseits das Gespräch wieder aufnahm.
    »Sie nennen sich den Juden dieses Zeitalters«, sagte ich, »hat die Einzahl dieselbe Bedeutung wie im Falle des Arbeiters?«
    »Schon die Bedeutung des Wortes zeigt«, so belehrte er mich, »daß es immer Zehn zugleich sind, die den Namen Minjonman tragen. Sie repräsentieren, was durch Gottes Willen nicht vergehn darf …«
    »Und warum Zehn, Io-Saul?«
    »Zehn machen die Gemeinde und das Gebet der Gemeinde. Zehn ist die äußerste Zusammendrängung gemeinsamer Frömmigkeit.«
    »Verzeihen Sie meine Neugier, Io-Saul«, forschte ich weiter. »Sind es zehn einzelne und unabhängige Persönlichkeiten oder zehn Familienvorstände?«
    »Zehn einzelne Personen«, erwiderte er, »zehn ausgewählte Personen, die Männer von Frauen und Väter von Kindern und Söhne von Müttern und Brüder von Brüdern und Schwestern und Schwäger und Schwiegerväter und Vettern und Oheime und Neffen sind … Ich freue mich, Doktus, daß Ihnen mein Imbiß auch ohne Alkohol geschmeckt hat.«
    »Es schmeckt mir so innig, so innig«, sagte ich ganz träumerisch, »ich werde noch um ein viertel Schälchen bitten.«
    Nachdem ich mich neu bedient hatte, nahm ich den Faden wieder auf:
    »…Männer von Frauen, Väter von Kindern, Söhne von Müttern, Brüder, Schwestern, Schwäger, Schwiegerväter, Vettern, Onkel, Neffen, etwas viel Familie, mein ich …«
    »Viel Familie«, sagte König Saul ernst, »das war immer unsere Spezialität.«
    In diesem Augenblick war ich unbewußt ganz und gar Reiseberichterstatter und Interviewer und fragte weiter, obwohl’s schon zweifellos zudringlich war:
    »Und was ist der Endzweck, daß in einer eingeebneten und grau in grau zusammengeflossenen Welt, wie Sie es nannten, diese zehn Familien Minjonman sich absondern und ihr Leben sich selbst erschweren?«
    »Gibt es einen andern Endzweck auf Erden als die Gebote halten und …«
    Er brach ab und machte eine Pause, so daß ich gezwungen war, neugierig zu wiederholen »Und?«
    »Und warten«, sagte König Saul, und sein Antlitz lächelte melancholisch.
    Ich aber lehnte mich zurück und dachte nach über dieses Wort »warten«. Es schien mir übereinzustimmen, sowohl mit der Zeiterfahrung, die ich als Knabe am Fenster meines Ferienzimmers gemacht, wie auch mit meiner Existenz im Tode, die freilich der Großbischof als unecht verworfen hatte. Warten ist nackte, das heißt völlig entblößte Zeit. Diese aber ist die Verbindung zweier entlegener Raumpunkte, auf deren Linie die vollkommene Ruhe im Vehikel der vollkommenen Bewegung einherfährt. Aber selbst die Ruhe des Todes (ich hatte es erlebt) kann tief innen glauben, sie werde auf den richtigen Punkt hinbewegt. Dann ist das Warten König Sauls mehr als Warten, nämlich Hoffnung, dann ist die nackte Zeit eine fromme Zeit, dann ist die bewegte Ruhe des Todes ein eingeschmiegtes Schlummern in Gott. Ja, sie sind wahrhaftig das Volk der frommen Zeit und daher der Hoffnung, die zehn Minjonmans. Versunken in solche Gedanken, die auf tiefsten Erfahrungen bcruhn und daher durch die sprachliche Fassung verdunkelt werden wie Nachtlampen an

Weitere Kostenlose Bücher