Stern der Ungeborenen
selbstbewußten Ausspruch beschwor er seinen Sohn Joel-Hainz, sich nicht »einzumischen« und von allen Bündeleien mit jenen abzulassen, die aus ihrer Unzufriedenheit kein Hehl machten:
»Es ist schlecht«, sagte er. »Weiß ich nicht besser als jeder andere, wie schlecht es ist? Aber dieses Schlecht ist
ihr
Schlecht und nicht
unser
Schlecht. Was geht es mich an? Mit dieser Frage habe ich vieles überlebt. Frag dich auch: was geht es dich an?«
Gegenüber diesem ganz ungeheuerlichen Isolationismus schien der erkünstelt affektlose Joel-Hainz seine pedantische Apathie verlieren zu wollen. Seine Augen bekamen Farbe und sahen zum erstenmal den Vater durchdringend an. Selbst der goldene Kopfputz, mit welchem er die schöne Welt der andern nachahmte, war etwas zur Seite gerückt. Die Antwort wäre nicht wenig giftig ausgefallen, hätte Minjonman nicht plötzlich Unruhe gezeigt, an seinem Schwarzbärtchen gezaust und sich erhoben. Auch ich stand auf und frug, was gewiß kein Gespenst vor mir je gefragt hatte:
»Bin ich nicht zu lange geblieben … Störe ich Sie?«
»Nicht Sie stören, Doktus«, erwiderte König Saul, »aber das ›Amt der Verlorenen‹ sendet Rufe nach Ihnen aus …«
»Und wie hab ich auf diese Rufe zu reagieren?« erkundigte ich mich.
»Indem Sie selbst den lauten Ruf ausstoßen ›Hier bin ich‹«, sagte Minjonman, hob aber zugleich beschwörend den Arm, um mich zu hindern, es zu tun:
»Ich möchte Sie bitten, Doktus«, sagte er, »nicht in meinem Hause ›Hier bin ich‹ zu rufen.«
Bei dieser Gebärde und diesen Worten hörte ich das erste Mal Joel-Hainz lachen. Das heißt, ich hörte ihn nicht, denn er lachte lautlos und ohne einen Gesichtsmuskel zu verziehen. Es war ein Lachen, das nichts Gutes für die Zukunft verhieß. Dies mußte ich denken.
»Soll ich’s um Ihretwillen nicht tun oder um meinetwillen?« fragte ich gespannt.
»Was braucht man Sie beim Juden dieses Zeitalters zu erwischen?« brummte König Saul.
»Sie sollen es um seinetwillen nicht tun«, sagte Joel-Hainz pointiert und langsam, »denn er will die Welt nicht verändern, sondern mit ihr nichts zu schaffen haben. So liegt’s ihm im Blut.«
»Du aber brennst darauf, mit der Welt zu schaffen zu haben«, brach König Saul aus, »obwohl’s dir nicht im Blut liegt.«
»Sehr möglich«, sagte Joel-Hainz gemacht träumerisch.
Obwohl mir noch viele Fragen auf der Zunge brannten, folgte ich schweigend Io-Saul-Minjonman, der mich durch dumpfe Gänge und über dunkle Treppen ins Freie führte. Wir befanden uns fernab von den parallelen Mauern der »Ehemaligen Unterstadt«.
»Stellen Sie Ihren Wunsch nur auf die ›Ehemalige Unterstadt‹ ein, wenn man von Ihnen Unmögliches verlangt und Sie mich brauchen.«
Ich stutzte. Es war das zweite Versprechen, mir aus der Klemme zu helfen, an diesem Vormittag. Ich wartete, bis Minjonman untergetaucht war. Dann rief ich laut: »Hier bin ich.«
Keine zwei Minuten währte es, bis wir einander auf offenem Graurasen wieder begegneten, meine Hausgenossen und ich. Obwohl wir beide Ziele bildeten, ich und sie, die aufeinander zu bewegt wurden, so war doch die Illusion der freien Begegnung vollkommen. Immer wieder mußte ich über die Feinfühligkeit des modernen Transportwesens staunen. Ich erwartete, als Ausreißer und Herumtreiber mit zumindest vorwurfsvoller Reserve empfangen zu werden. Nichts davon. Die Begrüßung konnte nicht freudiger und herzlicher sein. Nicht einmal ein Witzwort über mein freies Flanieren traf mich. Nur B. H., der Wiedergeborene, der ja noch einen Rest des nervösen zwanzigsten Jahrhunderts in sich bewahrte und außerdem sowohl den Gastfreunden als auch mir gegenüber die Verantwortung für meine Existenz trug, flüsterte mir ins Ohr:
»Gottseidank, daß du noch auf der Welt bist. Ich hab’ schon Blut geschwitzt.«
Es waren gekommen, um mich zu suchen, Io-Fagòr, der Herr des Hauses, der Wortführer, der Hausweise und der Beständige Gast, diese drei bemoosten Junggesellen seines Hofstaates, sowie der liebe Herr Io-Solip, sein Gegenschwieger. Letzterer benachrichtigte sofort seinen Sohn, den Bräutigam, durch Anrufung, daß ich wiedergefunden sei. Io-Do war verpflichtet, den Tag in einsamer Ruhe und Betrachtung zu verbringen, denn der heutige Abend – derselbe, den man bei uns Polterabend nennt – war einem festlichen Sympaian geweiht, worunter ich mir etwas wie eine Theater- und Musikaufführung vorstellte. Freilich, als ich hörte, der junge Mann
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