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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Verlangsamung des Lebens hatte noch andere Besonderheiten nach sich gezogen, die ich zum Teil erriet, zum Teil aus dem Munde B. H.’s erfuhr (so scheint es mir wenigstens jetzt), noch ehe ich mit den Menschen in Berührung kam, die mich zur Hochzeitsfeier eingeladen oder richtiger ›zitiert‹ hatten. Die Verarmung des Lebens an Buntheit und Fülle, die erstaunliche Verringerung seiner Varietäten, die Abnahme seiner Leidenschaften, all dies zu erraten, dazu gehörte wahrhaftig nicht viel Scharfsinn. Ein Blick weit hinaus auf die glatte Trostlosigkeit des Erdenbildes bewies alles. Wir waren bisher noch keinem einzigen Menschen begegnet. Ich zog daraus, wie mir mein Freund bestätigte, keinen falschen Schluß: Die ehemalige Milliardenzahl gleichzeitig lebender Individuen war auf jenes Minimum zusammengeschrumpft oder zurückgeführt, welches für den Fortbestand einer Spezies unumgänglich notwendig ist. Auch das nächste Glied der Schlußkette ergab sich mit Notwendigkeit: Bei solch dünner Bevölkerung des eingeebneten Erdballs, die durch das Reise-Geduldspiel auf das schwereloseste verbunden war, konnten nationale und sprachliche Unterschiede nicht bestehen. Seit undenklichen Epochen war die Menschheit geeinigt.
    Gewiß, B. H. hatte den Ehrgeiz, mich in Erstaunen zu setzen. Zugleich aber wollte er nicht, daß ich mich blamierte und als ein völlig Unwissender und Ungebildeter meinen neuen Zeitgenossen erscheine. Dem hatte ich es zu verdanken, daß ich rasch einige Aufklärungen darüber erhielt, was eine Hochzeit in der mentalen Welt bedeutete, und warum es eine hohe gesellschaftliche Ehre war, diesem Feste zugezogen zu werden.
    Das Gebiet, auf dem sich der durch die »Transparenz« hervorgerufene Wandel am schärfsten spiegelte, war, wie nicht anders zu erwarten, das Gebiet der Fortpflanzung: Paarung, Zeugung, Empfängnis, Schwangerschaft, werdendes und hervortretendes Leben. Es sei
nicht
wahr, gestand B. H., daß alle Frauen nur einer
einzigen
Schwangerschaft im Leben fähig waren. Dies stimmte nur für die adeligste und verfeinertste Klasse unter ihnen. Gleich den edlen Bäumen im Märchen war es ihnen gegeben, nur einmal Frucht zu tragen. Hingegen war die Verfeinerung der Natur allgemein, die in dem Umstand lag, daß die Dauer der Gravidität sich von neun auf beinahe zwölf Monate erhöht hatte.
    War die Monopädie, das Einkindsystem auch die Regel, so waren, wie B. H. mit bedenklicher Miene erklärte, die Ausnahmen zahlreicher als diese Regel. Wie hoch sich freilich die Verhältniszahl jener Ehepaare belief, die zwei oder drei Kinder großzogen, das konnte ich während meiner ganzen Anwesenheit nicht erforschen. Jenes statistische Bedürfnis, das mein eigenes Zeitalter gekennzeichnet hatte, schien der mentalen Epoche völlig abhanden gekommen zu sein. Eines aber wurde mir schon jetzt aus den Andeutungen des Wiedergeborenen klar: Von »Familie« konnte derjenige nicht sein, welcher zu einer »kinderreichen« Familie gehörte, die zwei Sprößlinge daheim zu hüten hatte. Die kinderreichen Familien bildeten somit die »untere Klasse der Gesellschaft«, obwohl dieses Wort »untere Klasse« recht sinnlos klang für eine Welt, von der B. H. im selben Atemzuge behauptete, sie kenne keine ökonomischen noch sozialen Unterschiede. Immerhin verschwieg er mir nicht, daß sich das monopädische Patriziat mit den »Kinderreichen« nicht vermische.
    Ich hatte rasch kapiert, welche hohe Bedeutung der Ehe in dieser Welt innewohnen mußte. Sie schien sie beinahe zur Höhe der sakramentalen Heiligkeit zu erheben, wie sie die katholische Kirche lehrte, die eine von den zwei Erscheinungen aus den Anfängen war, denen ich hier begegnen sollte. (Die zweite wird zur rechten Zeit verraten werden.) Was die Vereinigung von Mann und Weib betraf, so blieb viel weniger der freien Liebeswahl überlassen als in dem liberalen Zeitalter meines früheren Lebens. Wieder einmal berührten sich die äußersten Gegensätze, indem die Mentalen dieser fernsten Zukunft in dieser Hinsicht es nicht anders hielten als die mythischen Bauern des verschollensten Altertums. Schon dem zehnjährigen Knaben wurde die rechte Braut zugeordnet. Die Wahl war im hohen Grade vorherbestimmt durch gewisse äußere Zeichen und innere Eigenschaften der Kinder. Unter äußeren Zeichen verstehe ich auch jene Hinweise, welche von den Sternen herabgelangten. In den abgelaufenen Weltepochen hatte sich das Verhältnis des Menschen zum Sternenall radikal verändert.

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