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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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atmosphärischen Sauerstoffs …«
    »Irrtum«, sagte B. H., »das Ereignis hatte eine Menge von physikalischen Folgen. Daß einige Millionen Menschen während der Transparenz starben, ist nicht so wichtig. Aber sieh nach oben, F. W., und du wirst die Folgen sehen, oder richtiger, nicht sehen …«
    Ich blickte gehorsam zum strahlenden Himmel. Er kam mir viel leerer, viel stummer vor als zu meiner Lebenszeit. Plötzlich fühlte ich in mir einen kurzen, wunderlichen Schreck: »Wo sind die Vögel?« fragte ich.
    »Das Geschlecht der Vögel ist dahin seit dem dreizehnten Novemberfreitag«, entgegnete er, nicht ohne schleppende Feierlichkeit, und er fügte hinzu: »Ihre Angst und ihre Begeisterung war zu groß. Sie haben’s nicht überlebt.«
    Nach diesen Worten sagte B. H. nichts mehr. Er ging auf die dunkle Baumgruppe zu, die einige Schritte von uns entfernt lag. Nach einem schnellen, mißtrauischen Blick zur hochstehenden Sonne empor folgte ich ihm.
    Nun, da ich mich mit fliegender Feder der eigentlichen Reisebeschreibung der mentalen oder astromentalen Zeit und Welt zuwenden sollte, fühle ich mich aufgehalten und halte mit mir, was weit gefährlicher ist, den noch immer verdutzten und vielleicht schon erbosten Leser auf.
    Ich erforsche mit möglichster Wahrheitstreue mein Gedächtnis und kann es doch nicht genau ermitteln, wieviel mir B. H. von den Voraussetzungen dieser Zeit und Welt verriet, ehe wir das Haus der Hochzeiter betraten. Jetzt, ich meine jetzt, während ich dies schreibe, da immerhin einige Nächte und Tage seit meiner Heimkehr vergangen sind, scheint es mir, als habe mein Freund sich dazu bewegen lassen, mir einige knappe Informationen zu erteilen, ehe er vor einer umwucherten Gartenpforte eine kurze Verbeugung vollführte und mit halblauter Stimme ins Leere rief: »Wir sind hier, wie verabredet«, worauf sich die Pforte öffnete.
    Vielleicht aber irre ich mich, und der Wiedergeborene, den mir die »Transparenz« oder »Sonnenkatastrophe« so beredsam preisgegeben hatte, hielt mich kurz, ehe er mich seinen Freunden vorstellte. B. H. war durchaus nicht so dienstwillig zu mir wie, um einen überheblichen Vergleich zu wagen, Vergilius etwa zu Dante. Es herrschte zwischen uns beiden trotz aller Freundschaft eine Art von unterdrücktem Streit dann und wann. Wie jeder echte Cicerone wollte B. H. mich, den Touristen, stets überwältigt sehen und vor Erstaunen fassungslos. Ich aber, wie jeder Tourist, setzte diesem Bestreben meinerseits einen hartnäckigen Widerstand entgegen und zeigte mich lieber – oft gegen meinen eigenen Willen – abgestumpft und blasiert. So geschah es, daß B. H. nicht selten gekränkt war und mir seine Belehrung vorenthielt. Gar mancher ungeahnten Tatsachen wurde ich ohne alle Erklärung inne, durch Penetration und Osmose, ich kann’s nicht besser ausdrücken. Schon dadurch, daß ich in ihr anwesend war, durchdrang mich die unbekannte Welt und Zeit mit einem unverhofft rasch wachsenden Verständnis für ihre Besonderheiten und unermeßlichen Verwandlungen. Nur so ist es erklärbar, daß ein, nach Stunden gemessen, sehr kurzer Aufenthalt mir genügte, um diesen ausführlichen Bericht hier erstatten zu dürfen, wobei ich teils aus Zweifel an der Zuverlässigkeit meines Gedächtnisses, teils aus Scheu, den Geist des Lesers mit allzuviel Neuem zu ermüden, nur eine Auswahl aus der Fülle des Gesehenen, Erfahrenen und Gewußten in möglichst chronologischer Folge aufs Papier werfe.
    B. H. hatte es vorhin verstanden, jenes ungeheure Himmelsereignis der Transparenz mir so glorios vor die Seele zu stellen, daß es mir, als ich scheu zur Sonne emporblickte, plötzlich so vorkam, als hätte ich es selbst erlebt, als wäre ich mit Körper und Seele dabei gewesen, obwohl es doch einige Jahrzehntausende oder Weltepochen vor meiner Besuchszeit stattgefunden hatte, während der tiefsten Tiefe meines Todesschlafes. Es war ein ganz richtiger Instinkt gewesen, der mich darauf bestehen ließ, zuerst in das Ereignis eingeweiht zu werden, bevor ich die Schwelle des Hochzeitshauses überschritt. Daß eine Hochzeit, das Fest der Eheschließung, so viel mehr bedeutete als in meinen Tagen, auch das hing ja mit jener erhabenen Transparenz zusammen. Seitdem unsere Sonne ihren »Anfall« erlitten hatte, jenen infinitesimalen Augenblick zwischen strahlendem Fortbestand und explosivem Verderben, welcher so leicht unser ganzes Planetensystem hätte in dünnste Urmaterie zurückverwandeln können,

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