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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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seit jenem Augenblick der Augenblicke hatten nämlich auf unserer lieben und leidigen Erde einige Umwälzungen stattgefunden, die nicht unwichtiger waren als das Verschwinden des Vogelgeschlechtes. Obwohl der Augenblick der Augenblicke so kurz gewesen, daß B. H. nicht genug Nullen in die Luft schreiben konnte, um seine Kürze darzustellen, so hatte er doch genügt, um den Abstand des Erdglobus vom Sonnengestirn etwas zu vergrößern. Es war eine ganz und gar unwesentliche Vergrößerung, welche die Umlaufzeit der Erde und somit das Jahr um kaum ein oder zwei Stunden verlängerte. Und doch – diese winzige Dehnung drückte sich in der Natur- und Menschheitsgeschichte aus, nicht anders wie die leicht erlahmte Achsendrehung der Erde, die in ebenso winzigem Ausmaße die vierundzwanzig Stunden des Tages um ein Häuflein von Sekunden vermehrte. Blutiger Laie, der ich bin, berichte ich diese Veränderungen nur, ohne sie astronomisch und physikalisch beschreiben, begründen und rechtfertigen zu können. Es wird Sache der Gelehrten sein, diese von mir heimgebrachten Fakten zu prüfen.
    Der skeptischste Gelehrte jedoch wird die Wahrscheinlichkeit nicht ausschließen, daß auch geringe kosmisch-astronomische Veränderungen nicht ohne biologische Folgen bleiben können. Mit der wichtigsten dieser Konsequenzen, soweit sie die Krone der Schöpfung anbetrifft, platze ich ganz ungehöriger Weise sofort heraus. Es war dies eine sehr beträchtliche Erhöhung des menschlichen Lebensalters. Ob diese freilich einzig der Verlängerung und Verlangsamung des planetaren Rhythmus zu danken war oder ob eine kunstvolle Verminderung jener Gefahren und Schädigungen mitspielte, wie sie den hinfälligen Körper des Menschenkindes meiner Zeit bedrohten, auch dies ist eine der Fragen, mit denen ich die Schultern der Gelehrten belasten muß. Es ist eine gewisse furchtsame Verlegenheit, die mich zwingt, die Frist an der Gartenpforte der astromentalen Epoche ein wenig hinauszuziehen. Sind wir einmal eingetreten, so wird es unsere schwierige Aufgabe sein, mit einer erdrückenden Fülle grandiosen Fortschritts fertig zu werden, der ganz und gar nichts mit technischen Verbesserungen und Erleichterungen zu tun hat, welche wir in den Anfängen der Menschheit beinahe ausschließlich mit »Fortschritt« identifizierten. Dieses Wort, naiv und schnurgerade verwendet, umschließt, was inzwischen auch schon den Minderklugen bekannt ward, eine arge Illusion. Andererseits bleibt aber vom Bienenfleiße der wechselnden Generationen so mancher Honigtropfen der Erfahrung in den Waben zurück, den selbst Sonnen- und Erdkatastrophen sowie der partielle Gedächtnisverlust der Menschheit nicht völlig vergeuden können. Jede gehende Uhr, die dem Menschen die Stunde schlägt, ist eine Sparbüchse, in welcher die sich sammelnden Sekunden nicht ganz zinsenlos hinwegschmelzen. Die Zeit an sich thesauriert für das Menschengeschlecht, das sie erlebt und erleidet, ein gewisses Kapital, das allerdings, wie durch den letzten Willen eines weitsichtig geizigen Erblassers, nur als winzige Rente in großen Abständen behoben werden kann. So ist denn jede Generation ein klein wenig reicher als die ihr vorangehende, und sei sie auch nur reicher um deren Niederlagen. Dieses mikroskopisch geringe Plus an sich mehrendem Älterwerden ist der ganze »Fortschritt« der Menschheit.
    Ich widerrufe die obige Erkenntnis nicht, obwohl ich am zweiten Tage meines Besuches aus dem Munde des Großbischofs eine ganz und gar gegenteilige Lehre zu hören bekam. Die Wahrheit ist ein und dieselbe. Die Sichtwinkel sind verschieden. Das Lebensalter der Menschen, in deren Kreis ich sogleich treten soll – wir stehen zur Beruhigung des Lesers schon jenseits der Gartenpforte –, konnte ohne große Schwierigkeit bis zum zweihundertsten Jahre ausgedehnt werden. Die meisten Leute jedoch pflegten schon zwanzig oder dreißig Jahre früher ›in Pension zu gehen‹, obgleich ihnen das Alter keine Beschwerden brachte, sondern schlimmstenfalls eine gewisse Gelangweiltheit und Sättigung. Hier aber nähere ich mich bereits voreilig der zweitwichtigsten, wenn nicht der wichtigsten Erfahrung meiner Reise, und es wäre vom Standpunkte des Berichterstatters sowie des Romanschreibers mehr als ungeschickt, diese Erfahrung zusamt der Bedeutung des Wortes »Wintergarten« (ein heuchlerischer Ausdruck) vor dem zweiundzwanzigsten Kapitel im dritten Teil dieses Buches preiszugeben. Die allgemeine Verlängerung und

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