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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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nicht so sehr in einer Kanzlei befand, in der etwa die organisatorischen Fäden der Lamaserie zusammenliefen, als viel eher in einer Schatzkammer, in der Schatzkammer des Arachnodroms. Überall dort, wo an Wänden und Gewölben mattes Silberzwielicht hintastete, saßen oder hingen in ihren Schleiergeweben die seltensten, schönsten und kostbarsten Arten von Spinnen, welche die mentale Natur hervorbrachte. Es waren nicht nur die großen und prächtigen Silberspinnen darunter, die ich schon in der Lamaserie der Fremdfühler beobachtet hatte, sondern ganz neue, ganz absonderliche Spezien der siegreichen Sterninsekten. Von außerordentlicher Schönheit waren die Spinnweben, die tief unter der dunklen Deckenwölbung den Raum gewissermaßen wie mit Fischernetzen oder Hängematten aus Strahlen entzweiteilten. Sie schaukelten in einem langsamen Rhythmus hin und her, eine unerklärlich souveräne Bewegung, die den Blick nicht freigab. Fest überzeugt davon, der Hochschwebende müsse wie jeder andere diesen Raum betreten, schenkte ich dem runden, dunklen Bündel, das ich undeutlich durch die Spinnwebe ganz oben in einem Schatteneck der Deckenwölbung gewahren konnte, keine besondere Aufmerksamkeit. Dieses große Bündel, das ich anfangs, ich weiß nicht warum, für eine mächtige Kesselpauke gehalten hatte, schmiegte sich tief und fest und regungslos in die Wölbung hinein, so daß es im Schatten ganz verschwand. Nicht einen Augenblick lang befiel mich die Ahnung, jene dunkle, unbewegliche Kugel dort oben könne ein Mensch sein, und der Ausdruck »Hochschwebender« sei nicht sprachfigürlich, sondern wortwörtlich gemeint.
    Der Begriff der »Levitation«, der mystischen Raumerhöhung, war mir natürlich nicht unbekannt, als ich auf der Pritsche des Comptoirs mich schweratmend ausstreckte, um der erhöhten Gravitation im Raume besser Widerstand leisten zu können. Es gibt unzählige Dokumente, welche dieses eigenartige Phänomen im Laufe der Weltgeschichte unwiderleglich bezeugen, einer Weltgeschichte, die für mich natürlich im zwanzigsten Jahrhundert abschließt. Schon Damis, der Begleiter des Apollonius von Tyana versichert, er habe in Indien gewisse hochentwickelte Brahmanen gesehen, welche in aller Freundlichkeit zehn Ellen hoch über der Erde schwebten, während sich die marktfahrende Menschenmenge deswegen im Anbieten und Feilschen nicht besonders stören ließ. Der neuplatonische Philosoph Jamblichos, ein Bekämpfer des Christentums übrigens, war vielleicht der erste römische Bürger, von dem Berichte vorliegen, die seine Fähigkeit bestätigen, sich bis zu vier Fuß während der Meditation in den Raum zu erheben. Stephano Maconi, ein eher skeptischer Laie und Mediziner, schreibt als Augenzeuge über Katharina von Siena, »daß vornehmlich, wenn ihre Seele sich für etwas göttlich Hohes im Gebet erregte, sie auch körperlich hochgerissen und gehoben wurde, in welch schwebendem Zustande sie nicht wenig Menschen gesehen haben, deren einer ich selbst bin …«
    Doch nicht nur von buddhistischen Eingeweihten, neuplatonischen Mystikern und katholischen Heiligen wird jene Raumerhebung bezeugt, sondern von ganz ordinären Leuten, wie zum Beispiel von der Bürgerin Anna Fleischer aus Freiberg, von welcher der protestantische Superintendent Möller in seiner Beschreibung der genannten Stadt Freiberg uns erzählt, »daß sie, epileptisch und von schweren Visionen heimgesucht, im Beisein der Herren Dachsel und Waldinger, urplötzlich im Bette, mit dem ganzen Leib, Haupt und Füßen, bei dritthalb Ellen hoch aufgehoben ward, so daß sie freischwebend blieb, die Anwesenden aber zu Gott schrien, sie umfingen und herabrissen, denn es hatte das Ansehen, als ob sie wolle zum offenen Fenster hinausfahren«.
    Die hier ausgewählten kunterbunten Bezeugungen der mystischen Raumerhebung könnten mühelos um hundert andere vermehrt werden (so zum Beispiel um die Manifestationen des berühmten Schotten Home in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts) und würden doch nicht das mindeste mit der Levitation zu tun haben, durch welche der Hochschwebende dieses Zeitalters seinen sonderbaren, aber höchst zutreffenden Titel bewährte. Vor allem aber seine Erhebung im Raum war kein mystischer oder auch nur wundersam epileptischer Ausnahmezustand eines menschlichen Körpers, sondern, wenn man es so ausdrücken darf, die natürliche Folge einer mit Genialität und voller Hingabe durch anderthalb Jahrhunderte unabläßlich geübten

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