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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Hochschwebende hielt sich etwa einen halben Meter über dem Fußende meines Ruhelagers in Balance. Er tat das, indem er, ähnlich wie ein guter Schwimmer wassertritt, mit seinen schwachen Beinchen lufttrat, und dann und wann dazu mit den Händen paddelte; doch tat er das wunderlich umgekehrt von unten nach oben, den Luftstrom zur Höhe drängend, um nicht emporgerissen zu werden. Diese Bewegung, seine beiden Buckel vorne und hinten, der völlig runde, spiegelglatt gedrechselte Kopf ohne Brauen und Wimpern, ferner die hellen, ein wenig geröteten, vorgewölbten Augen und ein breiter, von verhehltem Schmerz nach abwärts gezogener Mund – dies alles erweckte in mir den Eindruck: ein göttlicher Kugel- oder Mondfisch.
    Ich versuchte mich aufzurichten, um ihm meine Verehrung zu bezeugen. Er winkte mir ziemlich heftig durch lebhaftes Gepaddel seiner Händchen ab. Dazu zündete er im Hintergrund seiner Glotzaugen ein freundliches Lächeln an, das der astralen Gicht, dem Xenospasmus und einer wahrhaft kosmischen Gleichgültigkeit und Unaufmerksamkeit tapfer abgerungen war. Ich mochte immerhin für eine mentale Hochzeitsfeier als ein lebendiger Zeuge aus den Anfängen der Menschheit eine Art von Schlager bedeuten, für ihn bedeutete ich samt meinen hunderttausend Jahren bestenfalls eine Belästigung und schlimmstenfalls eine Quälerei. Was konnte ich ihm bringen? Was hätte ich gewußt, was er nicht wüßte? Wir, das heißt ich gemeinsam mit einigen Lesern, werden in wenigen Minuten, nicht ohne daß mir ein Schauer den Rücken herabläuft, mit voller Deutlichkeit erleben, daß er viel mehr über mich wußte als ich selbst, und zwar nicht etwa in einem psychoanalytisch herumratenden Sinne, sondern praktisch und faktisch.
    Da er mir nicht erlaubte, mich vom Lager zu erheben, auf das mich die ganze Gewalt der hochgeschraubten Gravitation gebannt, ja niedergeworfen hielt, grüßte ich ihn mit einer kleinen Kopfbewegung und einem dankbaren Blick.
    »Die erste Frage wird erwartet«, sagte er mit seiner hohen tonlosen Stimme, die mich an das Dampfheizungszischen der Stimmen im Grauen Neutrum gemahnte. Ich wußte, daß ich mich jetzt zusammennehmen müsse, um seine leidende Geduldigkeit nicht zu mißbrauchen. Ich versuchte daher meine drei Fragen so trocken und kurz wie möglich zu formulieren. Eine gewisse Schwierigkeit lag für mich in dem Problem, wie ich den Hochschwebenden ansprechen sollte. Wäre ich ein Engländer oder Amerikaner gewesen, hätte sich dieses höchst unbedeutende Problem durch ein offiziell distanziertes »Sir« lösen lassen. ich war aber weder ein Engländer noch Amerikaner, sondern ein Mitteleuropäer, in einer Monarchie geboren, und da meine aufrührerischen Flegeljahre längst hinter mir lagen, erschien es mir rüpelhaft, einer offiziellen Persönlichkeit Titel und Würden vorzuenthalten. Mir fiel der alte demütige Schloßkaplan eines böhmischen Aristokraten ein, der es nicht ertragen konnte, daß der Graf ihn »Hochwürden« nannte, während er zur Herrschaft, zum Grafen, nichts anderes sagen sollte als »Herr Graf«. In seiner Not wurde der alte tschechische Priester sprachschöpferisch und erfand eine Anrede, die es gar nicht gab, nämlich »Euer Hochgnaden«. Kein Titel als dieses »Euer Hochgnaden« schien mir tauglicher für den Hauptchronosophen dieses Zeitalters. Und mit »Euer Hochgnaden« leitete ich die erste meiner drei Fragen ein, die folgendermaßen lautete:
    »Gibt es Engel und eine allverkleidungsfähige Protomateria, aus welcher sie geschaffen sind?«
    Bei diesen Worten, die ich zaghaft und mit Herzklopfen sprach, bemerkte ich erst die edle, verfeinerte Schönheit, welche der Hochschwebende ausstrahlte, trotz seiner Verkrüppelungen, der kugelrunden Schädelform, den vortretenden Augen und dem bleichen, allzuglatten Buddhagesicht. Er sah mich traurig an, und ich fühlte, daß er meinen Wert abwog und mich zu leicht befand. Es hatte ihn ein paar Fuß höher gezogen, und er mußte ein bißchen lufttreten und paddeln, um mir wieder näher zu kommen.
    »Warum will man bestätigt bekommen«, fragte er, »was man mit eigenen Augen gesehen hat?«
    »Weil man ein unsicherer Kantonist ist, Euer Hochgnaden«, erwiderte ich.
    Der Schwebende drehte sich darauf ein paarmal in der Luft langsam um seine Achse, wobei er mit den kurzen Beinchen auf einem unsichtbaren Drehstuhl zu sitzen schien. Er war in keine mattfarbene Schleierraffung gekleidet wie die mentalen Durchschnittsmenschen, sondern in eine

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