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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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über mir zogen sich noch tiefer herab, und die Händchen ruderten beinah ärgerlich:
    »Warum forscht man nach Geheimnissen?« fragte der Hochschwebende. »Wissen die Toten dieses Geheimnis?« wich ich aus.
    »Die Toten sind die Wiedervereinigten. Sie kennen es nicht, aber sie sind mittendrin im Geheimnis«, erwiderte er.
    »Ich bin vor kurzem noch ein Toter gewesen, also mittendrin im Geheimnis. Habe ich daher nicht ein Anrecht auf Frage Nummer zwei, Euer Hochgnaden?«
    Der Hochschwebende schwieg. »Das Ganze hat also nicht die Gestalt der Teile«, tastete ich mich vor, sein Schweigen gewissermaßen deutend, »das heißt nicht die Gestalt des Sterns, des Sphäroids, der an den Polen abgeplatteten Kugel, die Gestalt der größten Spannung bei kleinster Oberfläche? …«
    Er schwieg und schwieg. Ich wollte diese allzu kühne Frage bereits streichen, die ich an denjenigen unter den Sterblichen gestellt hatte, der bis an die Grenzen der Räume vorgedrungen sein sollte. Schon öffnete ich den Mund zu Frage Nummer Drei, als unvermutet die hohe, tonlose Stimme sprach:
    »Das Ganze hat die Gestalt des Menschen.«
    Nun schwieg
ich,
von einer unbekannten Erschütterung durchbebt, die mir den Atem beengte. Ich weiß nicht, wieviel Zeit verging, ehe ich eine der erlaubten Unterfragen stellte:
    »Heißt das, daß wir uns im Herzen oder im Nabel einer Menschengestalt befinden, die aus bewegten Gestirnen und Gestirnnebeln besteht wie wir selbst aus bewegten Unikeln, Achads und Monalen?«
    »Das Ganze hat die Gestalt des Menschen«, versetzte die tonlose Stimme, die jetzt deutlich zischte, als sei es nicht nötig, eine Antwort, die alles deckte und erklärte, zu variieren. Ich aber verirrte mich hartnäckig weiter in Unterfragen:
    »Ist damit etwa die Vision des Propheten Ezechiel bestätigt, der eine menschliche Gestalt über dem Throngefährt der Gottheit schweben sah? Oder hat damit die chronosophische Naturwissenschaft die tiefste Erkenntnis des kabbalistischen Buches Sohar gesichert, die von Adam Kadmon, dem kosmischen Adam, dem Menschen als Himmel und dem Himmel als Menschen verkündet, er sei die Erstlingsschöpfung Gottes? …«
    Es war ein Katarakt von Fragen, der meiner begreiflichen Erregung entstürzte. Für den Hochschwebenden aber bedeuteten all diese Neben- und Unterfragen Pleonasmen, die zu beantworten er gesetzlich nicht verpflichtet zu sein schien, denn er wiederholte jetzt zum drittenmal den allerschöpfenden Satz:
    »Das Ganze hat die Gestalt des Menschen.«
    Ich schloß die Augen. Ich nahm mich zusammen. Ich fühlte genau, daß ich bei meiner nächsten Neben- oder Unterfrage sehr vorsichtig sein mußte, um dem Hochschwebenden nicht als schäbiger Ausnützer zu erscheinen. Daß der Kosmos Menschengestalt habe, das war einer meiner frühesten Jugendträume gewesen, lange bevor ich noch etwas von Sohar, von der Kabbala und ihrem Himmelsmenschen gehört hatte, dem Adam Kadmon, dessen Körper aus allen vorhandenen Gestirnen und Gestirnwelten besteht, wie der unsere aus Protonen und Elektronen. Nun fand ich mehr als hunderttausend Jahre später meine jugendliche Eingebung, die ich zeit meines Lebens als märchenhaft und phantastisch belächelt hatte, durch die hochexperimentelle Wissenschaft der Chronosophie bestätigt. Auch war dadurch die Expansion und Kontraktion der Sternräume, das Atmen des Universums auf das Natürlichste erklärt. Wie viele Schwierigkeiten aber gab es noch, um zu der reinen Wahrheit vorzudringen? Vor allem: War unsere Menschengestalt etwas Endgültiges? Keineswegs. Die beobachtende und beschreibende Wissenschaft von der Entwicklung des Lebens, die man ebenfalls hoch achten mußte, hatte schon ehemals gezeigt, daß es gewaltige Unterschiede gab zwischen der Menschengestalt des Pithekanthropus erectus, des Tiermenschen und der modernen Menschengestalt einst und jetzt. Sollte der Kosmos vielleicht ein Gesicht mit abscheulich rückfliehender Stirn und kannibalischen Kauwerkzeugen haben? Ich öffnete die Augen und sah den Hochschwebenden an, der schräg mir gegenüber lufttrat, um sich in Balance zu halten. Da wußte ich plötzlich, daß wir unteren, wir irdischen Menschen die letzte, die kosmische Menschengestalt noch lange nicht erreicht hatten, und daß selbst der Hochschwebende mit seinem kugelrunden Buddhakopf, den verkümmerten Extremitäten und dem zum Zwecke der schwebenden Bewegung sich umbildenden Körper noch fern vom Ziele dieser Entwicklung war. Eine innere Scheu hielt mich aber

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