Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
zurück, meine nächste Unterfrage mit diesem wichtigen Komplex zu verbinden. Unversehens glitt ich zu folgendem über:
    »Wenn das Ganze Menschengestalt hat«, skandierte ich deutlich, »so muß es doch zwei Ganze geben, das heißt ein männliches und ein weibliches Universum.«
    »Das Ganze ist mit sich selbst verheiratet«, erklärte der Hochschwebende, überraschend prompt und ohne die üblichen Widerstände wie bisher.
    Ich aber verstand bei diesen Worten den Blitz eines Augenblicks lang, worin die sakramentale Heiligkeit der menschlichen Ehe gegründet ist, und warum die wirkliche Ehe im Himmel geschlossen wird, wie das Sprichwort sagt. Zugleich aber fragte ich, ziemlich naseweis und eine berechtigte Abfuhr erwartend, folgende Nebenfrage:
    »Wenn das Ganze mit sich selbst verheiratet ist, verrät nicht die positiv oder negativ elektrische Ladung aller Dinge den Geschlechtsunterschied der Materie?«
    »Die zweite Frage ist beantwortet«, strafte mich die hohe, tonlose Stimme, »die dritte wird lange schon erwartet.«
    Du sollst sie haben, dachte ich, denn trotz meiner Ehrfurcht vor dem Hochschwebenden hatte ich eine Frage vorbereitet, in welcher ich ihm eine Falle zu stellen gedachte. Ist nicht alles Frage- und Antwortspiel ein Kampf und nur dadurch reizvoll, daß es ein Kampf ist? Ich hatte soeben aus dem Munde des Großchronosophen die Welträtsel gelöst erhalten. Aber da ich nur in der Elementarklasse der Knaben im Niederen Intermundium hospitieren durfte, würde ich niemals imstande sein, die Richtigkeit der Lösung persönlich nachzuprüfen. Die Richtigkeit seiner Antwort auf meine dritte und letzte Frage wird für mich aber leicht nachprüfbar sein, sowie sie für ihn viel schwerer zu finden sein wird als die Lösung der Welträtsel. Ich fragte somit und wiederholte zweimal meine Frage:
    »Was war der wichtigste Augenblick meines Lebens?«
    Zugleich fragte ich mich diese Frage selbst und holte mit aller Bildkraft, die ich besaß, einen Strom von Erinnerungen aus meiner Seele, den ich mit möglichster Deutlichkeit an mir vorüberziehen ließ. Würde der Hochschwebende eine dieser Erinnerungen benützen, so hatte ich ihn besiegt, und er war in die Falle gegangen, denn auf Gedankenübertragung, Einfühlung und Hellsichtigkeit war ja der mentale Fortschritt gegründet. Um mich zu überzeugen, mußte er mich mit etwas gänzlich Unerwartetem kraß überraschen und mir verraten, was ich bis in die tiefste Tiefe vergessen hatte. Welche Szenen und Bilder aber holte ich in mein Bewußtsein herauf, den wichtigsten Augenblick meines Lebens erforschend, ein Unternehmen, das mich bisher niemals gelockt hatte? Ich wußte natürlich, daß die großen dramatischen Vorfälle, Emotionen und Entscheidungen nicht die wichtigsten Augenblicke bedeuten, sondern die winzigen, unscheinbaren, kaum merklichen Ursachen es sind, welche im Leben oft überraschende Folgen zeitigen. Warum mir aber gerade dies und nichts anderes ebenso Wichtiges oder Unwichtiges einfiel, das kann ich nicht sagen, obwohl die Auswahl, die mein Bewußtsein traf, mich selbst erstaunte. Ich sah mich zum Beispiel als einen zwölfjährigen Schuljungen in der sogenannten »Ufergasse« meiner Heimatstadt am glitschigen Kai des lächerlich kleinen Flußhafens stehen, an welchem doch manchmal Zillen und Schlepper lagen, welche »direkt von Hamburg« kamen, vom Meere also, vom Weltmeere und vielleicht von Amerika, das damals für mich noch immer das Amerika der Indianergeschichten war. Eines Tages lag dort wirklich ein ziemlich hochgebauter Schleppdampfer, der auf mich den Eindruck von geradezu unheimlicher Seetüchtigkeit machte. Er war frisch kalfatert, roch berauschend nach Teer, hatte sogar eine schöngewölbte Deckkabine mit prächtig messingglänzenden Bullaugen und einer »echten Schiffstür«, durch welche man über eine »echte Schiffstreppe« ins Innere gelangen konnte. Wild klopfte mir das Herz, und das ist keine Redensart, beim Anblick dieses Meerschiffes. Wenig hat in meinem späteren Leben auf mich eine ähnlich lockende und verführerische Wirkung ausgeübt als die Idee eines Meerschiffes in jenen Knabenjahren. Ich schwänzte oft die Schule, um mich in dem genannten Ufergäßchen unserer Binnenstadt mit ihrem breiten, aber seichten Moldaustrom umherzutreiben. An jenem Tage trat plötzlich eine junge Frau aus der Tür der schöngewölbten Deckkabine. Sie selbst war recht schön gewölbt, hatte ein breites, ordinäres Gesicht mit kurzer Nase, dicken

Weitere Kostenlose Bücher