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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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uns lange an und fragte endlich: »Gibt es etwas zu regeln zwischen euch beiden?« Mit diesen Worten baute er bewußt oder unbewußt eine Brücke, und der, der diese Brücke nicht betrat, mußte eine elende Memme, ein schlechter Kerl und eine ehrlose Kreatur sein. Diese elende Memme und ehrlose Kreatur war ich, und immer wenn ich an meine schnelle, vorbeugende Antwort denke »nein, Papa, nichts«, immer wieder knirsche ich mit den Zähnen über diesen zur Dauer erstarrten Augenblick, der mich richtet, wenn ich mich auch später zu einem Geständnis aufraffte.
    Dies sind nur zwei Augenblicke von den sehr vielen Augenblicken, die ich mir auf dem Lager in der Kanzlei des Hochschwebenden vergegenwärtigte. Viel zahlreicher aber zogen mir die zusammenhanglosen Bilder und jähen Erkenntnisse durch das Gemüt, die alle eine Bedeutung in meinem Leben gehabt hatten. Ich sah zum Beispiel wiederum durch das Gartentor des Krüppelhauses am Vyschehrad jenen Bocksmenschen auf allen Vieren stehen, mit fuchsrotem Spitzbart und schamlos hochgehobenem Hintern, ein Anblick, der vor mir das erste Mal den entsetzlichen Abgrund und die dämonischen Möglichkeiten der Natur aufriß. Doch hier mache ich schon halt und schweige von all dergleichen abgründigen Bildern, Augenblicken, Eingebungen, Erlebnissen, um sie besser unausgeplaudert wieder mit mir ins Grab zu nehmen. In Wirklichkeit nämlich drängte sich eine andre, vollere Geschichte gebieterisch in meiner Erinnerung vor, ein Erlebnis, das ich längst schon vergessen zu haben glaubte, das mir aber jetzt, da ich im Comptoir des Hochschwebenden schwer auf dem Ruhelager lastete, nicht nur als ein höchst wichtiger Augenblick meines Lebens erschien, sondern auch als der geeignetste, um den Großchronosophen zu prüfen, das heißt, ihm eine Falle zu legen. Die Begebenheit war mehr äußerlicher als psychologischer Natur, und ihre Einzelheiten erwachten in mir mit solcher lebendigen Schärfe, daß ich gewiß war, ein ganz gewöhnlicher Gedankenleser, geschweige denn der Hochschwebende, müßte sie mit Händen greifen.
    Auch damals lag ich ausgestreckt. Ich lag ausgestreckt in meinem schwarzen Schlafsack aus Wachstuch. In diesem Schlafsack aber lag ich auf einem Bett. Es war ein abscheuliches Bett, das in einer winzigen muffigen Kammer stand. Diese Kammer hatte ich kürzlich von einer polnischen Witwe namens Pozñanská gemietet, die den ganzen Tag um ihre durch den Krieg zerstörten Häuser jammerte. Das Haus mit meiner Kammer war noch nicht zerstört, obwohl unsere österreichische Front schon geraume Zeit durch dieses ukrainische Städtchen lief. Ich präge mir im allgemeinen das Bild von Zimmern nur höchst ungenau ein. Diesmal aber war meine Erinnerung so stark, daß ich absonderlicherweise nach mehr als hunderttausend plus siebenundzwanzig Jahren alle Gegenstände in dem elenden ebenerdigen Loch hätte richtig placieren können. Vielleicht kommt das daher, daß in jener denkwürdigen Nacht ein überschwenglicher Vollmond breit durch das offene Fenster fiel. Dieser helle Vollmond war übrigens auch der Grund, weswegen gestern vom Divisionskommando ein geheimer Befehl herabgelangt war, unser ganzer »Artillerieabschnitt Nord« möge sich in strenger Bereitschaft halten, da die große Offensive des Feindes, in diesem Falle des russischen Generals Brussilow, täglich und stündlich erwartet werde. Plötzlich sprangen verschollene Namen des Ersten Weltkriegs in mir auf. Man kämpfte schon seit Wochen im Angriff und Gegenangriff um die berühmte Höhenstellung »Worobiowka«, Cote 310 , etwa zwei Kilometer weit von meiner Schlafstätte. Ich sah über einem der beiden Holzstühle meine Uniformbluse hängen. Die roten Aufschläge und die drei weißen Sterne am Kragen leuchteten im Mondstrahl. Ich hatte es nämlich nicht weiter gebracht als bis zum Zugsführer (Sergeant) im Kaiserlich-Königlichen schweren Feldhaubitzregiment No.  15 , zugeteilt dem Artillerieabschnitt Nord.
    Ich erinnerte mich mit großer Ausdrücklichkeit eines unwesentlichen Details, das ich in meinen Vorstellungen ausspann, teils um den Hochschwebenden tiefer in meine Geschichte zu locken, teils weil es ein bestimmtes Lustgefühl in mir wiedererweckte. Neben meinem Bett auf dem Schemel stand eine Weckeruhr. Trotz des Mondlichts phosphoreszierte ihr Ziffernblatt. Phosphoreszierende Ziffernblätter waren damals eine ziemlich neue Erfindung. Und da war auch das größte Lustgefühl des Soldatenlebens: Die Uhr zeigte mir, daß

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