Stern der Ungeborenen
Lippen und lässig aufgestecktem, schwarzem Haar; ich konnte auf meinem Ruhelager dieses Gesicht ohne weiteres zurückrufen, mit all seiner gemeinhübschen Charakteristik. Die junge Frau trug große Ohrgehänge, war nachlässig gekleidet und ging barfuß, welch letzterer Umstand ihre Sirenenhaftigkeit noch vermehrte. Es muß eine Spanierin sein, sagte ich erschauernd zu mir selbst, indem ich meine mit einem Riemen zusammengebundenen Schulbücher an die Brust drückte. In diesem Augenblicke bemerkte mich die »Spanierin«, spitzte die Lippen und zwinkerte mir zu, ich möge kommen. Obwohl von Natur schüchtern, lief ich, ohne mich zu besinnen, über das Laufbrett an Bord und hatte das erste Mal die Planken eines Meerschiffes unter den Füßen, ein Erlebnis, das später nur von dem Rausch überboten wurde, als ich zum erstenmal die Bretter einer Bühne unter den Füßen fühlte; beide Male hohler, unsicherer Boden. Die Frau mußte bemerken, was in mir vorging, denn sie drückte mich lachend an sich. Sie roch stark nach Schweiß und einem fürchterlichen Parfüm. Die Mischung aber war für mich sehr berauschend. »Kommen Sie mit, junger Mann«, sagte sie, und es klang durchaus nicht spanisch, sondern in Wirklichkeit sächsisch. Die alte Geschichte vom Schiffsjungen war’s. Nichts aber hätte mich abgehalten, mitzukommen. Nicht der Gedanke an Vater und Mutter, ans Gymnasium, an meine Zukunft. Ich warf meinen Bücherpack zur Seite, um die Hände frei zu haben für die Arbeit, die man von mir fordern würde. Die Waage meines Schicksals hing in Schwebe, denn niemals mehr in Zukunft war ich so bereit wie in diesem Augenblick, radikal zu verschwinden, bedingungslos mein Leben zu ändern, vielleicht mehr wegen der schön gewölbten Deckhütte als wegen der schöngewölbten Dame. Daß ein markiger alter Schiffersmann mit Hindenburgschnauzbart die Affäre entschied, indem er mich fluchend ans Land jagte, ändert nichts daran, daß damit ein wichtiger Augenblick vorübergegangen war.
Warum ich nun auf dem Ruhelager des Comptoirs gerade die nachfolgende Erinnerung ausschöpfte, verstehe ich noch weniger. So niedrig und schäbig mein moralisches Versagen im Falle des Franzosen Benoit auch ist, ich werde bei der großen Bilanz aller Dinge am Ende der Zeiten viel Schlimmeres zu vertreten haben. Wir waren damals beide bereits über neunzehn Jahre alt, ich spreche von Benoit und mir, und hatten eine Menge Geld verjuxt, das heißt wir hatten Benoits Geld verjuxt, denn mein Vater hielt mich ziemlich streng, und meine Taschen waren meist leer. Während unserer lustigen Zeit (es war vermutlich viel forcierte Lustigkeit dabei) hatte ich Benoit das Wort gegeben, ich werde ihm meine Schuld auf Heller und Pfennig zurückerstatten. Dann kehrte ich in meine Vaterstadt heim und dachte nicht mehr daran. Es war bereits Mitte August. Ende September mußte ich meinen Militärdienst antreten. Da tauchte plötzlich Benoit auf. Er erinnerte mich freundschaftlich an mein Wort und forderte von mir, ich solle meinem Vater ein reuiges Geständnis ablegen, damit er meine Schuld begleiche. Ich wußte, daß Benoit ein pedantisch genauer Mensch war, glaubte aber nicht, daß er das Geld wirklich brauchte. Mein Vater seinerseits war ein guter Vater. Ich weiß das heute viel tiefer als in meiner Jugend, in der er mir manche Stunde durch seine nur allzuberechtige, aber bitter nörgelnde Kritik verstört hat. In einem Punkte verstand er keinen Spaß, im Schuldenmachen. Er selbst hatte nämlich durch eine Geldschuld, und zwar durch eine nicht einmal selbst genossene, sondern unschuldig aus dem Bankrott seines eigenen Vaters übernommene Schuld einen Rückschlag erlitten, den er selbst mit der leichterregten Pathetik eines glücklichen Zeitalters als bürgerlichen Schiffbruch bezeichnete. Ich vertröstete Benoit von Tag zu Tag, weil ich nicht den Mut hatte, meinem Vater zu beichten, daß ich ein leichtfertiger Schuldner ohne Notwendigkeit und nur dem unerlaubten Vergnügen zuliebe war, wo er, als ein Unschuldiger, die Schulden eines anderen hatte auf sich nehmen müssen. Es waren fürchterliche Tage. Benoit ließ mich immer deutlicher seine berechtigte Verachtung fühlen. Eines Tages ergab es sich, daß mein Vater, Benoit und ich zu dritt am Tische saßen. Benoits Augen lagen immer schwerer auf mir, schließlich machte er heimliche, empörte Zeichen, ich solle doch endlich den Mund aufmachen und reden. Mein Vater schien die Spannung zu fühlen. Er hob den Kopf, sah
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