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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Ahnfrau ins Gespräch, die sich mit vollendeter Grazie rechts auf den Arm des Hausweisen, links auf den Arm des Beständigen Gastes stützte. Man hatte sie zärtlich in viele Schleiershawls eingemummt, denn wenn das hohe Alter auch der Schönheit keinen Abbruch tat, so zeigte es sich doch in einer gewissen Empfindlichkeit der Atemorgane.
    »Ich erinnere mich an meine eigene Ururgroßmama«, sagte die Ahnin, »sie war eine der schönsten Frauen ihrer Epoche. Als Kind, ich werde Ihnen das Jahrhundert nicht eingestehen, hörte ich aus ihrem Munde viel von dem damaligen Dschungel. Er war natürlich viel kleiner, bescheidener und unentwickelter als heute, begann aber große Mode zu werden. Da gab es gewisse Damen, die durchbrannten und im Dschungel verschwanden. Die Dschungelmänner waren aber noch viel sonnverbrannter und barbarischer gekleidet als heute …«
    »Verehrteste Madame«, unterbrach sie ihr Nachkomme Io-Fagòr gequält, aber ritterlich, »Sie sollten in freier Luft Ihre samtene Stimme mehr schonen.«
    »Und doch sind’s keine Menschen«, trotzte der Bräutigam. »Menschen wohnen nicht oben im Freien.«
    »Wir haben oben gewohnt, mein lieber Freund«, versetzte ich ziemlich spitzig, »und zwar in ebensolchen Häusern wie Sie dort sehen können …«
    Da legte sich B. H. beruhigend ins Mittel:
    »Nun, nun, lieber F. W., wir wollen doch nicht vergessen, daß die Kathedralen, Stadtburgen, Kaiserschlösser, Wolkenkratzer, Flugzeugfabriken, ägyptischen Tempel und amerikanischen Gartenstädte deiner Lebenszeit doch etwas anderes gewesen sind als das dort …«
    Darauf antwortete ich nicht mehr. Mir war tatsächlich so, als stünde ich auf der Höhe eines mächtigen Festungswalles, denn die Brustwehr dehnte sich entlang am Rande eines schroffen (wahrscheinlich künstlichen) Felsabsturzes, welcher ungefähr hundert Meter hoch sein mochte und recht schwer zu erklimmen. Unter ihm lief ein breiter, grüner Festungsgraben, das heißt, ich nenne den Einschnitt Festungsgraben, der den »Dschungel« von der »Welt« trennte. Ich gewann aber den Eindruck, daß diese äußere Trennung mehr ein symbolisches als ein reales Hindernis bildete und daß beide Teile, die mentalen Menschen und die Dschungelleute, keinen Wunsch empfanden, miteinander in Verbindung zu treten. Dies freilich war sehr sonderbar und widersprach allen Mustern der mir bekannten Geschichte. Jenseits des breiten, grünen Bandes, das hier Festungsgraben genannt wird, begann das Terrain langsam, stufenweise, terrassenartig anzusteigen, und die Vegetation, oder allgemeiner gesagt, das Leben dort drüben wurde Schritt für Schritt dichter.
    Es war wiederum der störende Astigmatismus, der meine unbewaffneten Augen daran hinderte, alles ganz deutlich zu sehen, was zu sehen war. Aber was ich gesehen habe, das habe ich gesehen, und mein Bericht fügt nichts hinzu. Ich sah am äußersten, uns zugekehrten Rande des so ungerecht als Dschungel verschrienen und als »säuisches Getümmel« beschimpften Gebirgseilandes kleine, durch Zäune säuberlich getrennte Parzellen, wie sie ähnlich zu meiner Zeit am Rande der Städte zu finden gewesen sind. Man nannte sie Anno dazumal Schrebergärten, und sie dienten in der Periode der Weltkriege, der Lebensmittelknappheit und der schwarzen Märkte dazu, den kleinen Leuten, die dort ihr Gemüse zogen, ein wenig Zukost zum verschimmelten Elendsbrot zu liefern und, wenn es hoch ging, auch ein paar Hühner zu halten. Hinter diesen Schrebergärten zog sich ein weiter Strich von Gestrüpp und Gebüsch hin, der wahrscheinlich auch als Absonderung gedacht war. Hinter diesem Gebüsch schimmerten ein paar einfache, weiße Häuschen durch. Ich sah ein Kirchlein mit niedrigem Glockenturm und einem Kreuz darauf. Ich sah noch manches andere, obwohl ich niemanden daran hindern kann, meinen schlechten Augen zu mißtrauen. Ich sah zum Beispiel einige Felder, wirkliche echte Felder, auf denen das Getreide noch grün war. Ich sah etwas höher eine Art von Rummelplatz, sehr primitiv, mit einem laufenden Ringelspiel, einigen Schaukeln, einem Kletterbaum, wo sich eine kreischende Kinderschar vergnügte. Ich konnte sogar in der klaren Luft die bräunlichen Spatzenglieder dieser Kinder in ihren armseligen Bauernkitteln wahrnehmen und die dichten Haarpelze auf den Köpfchen, nicht nur pechschwarze, sondern auch blonde. Soweit die Tatsachen. Zu ihrer Verteidigung und Deutung muß ich an das Wort erinnern, das der Wiedergeborene zu mir gestern in dem

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