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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Und ich dachte an mein Gespräch mit Minjonman und seinem Sohn.
    »Ich hoffe, daß Sie nicht zu müde sind, Seigneur«, zögerte Io-Fagòr.
    »Ganz im Gegenteil«, mußte ich lachen. »Die Chronosophie, die soviel Zeit und Raum verbraucht, gehört zu den erfrischendsten Wissenschaften, die ich kenne.«
    »Im Anfang ist das immer so«, nickte der Gevatter. »Nach der vierten oder fünften Unterrichtsstunde würden Sie anders sprechen … Wenn es Ihnen recht ist, Seigneur, begeben wir uns nun dahin, wo sich etwas begibt.«
    Der eisengraue Rasen, sonst so gleichmäßig dicht, wurde immer dürftiger und räudiger. Wir gingen nun – wie genoß ich das normale Ausschreiten – über eine schmale Strecke, die ich bei mir das »Glacis der Unentschiedenheit« nannte, da der Erdboden hier in Verlegenheit zu sein schien, ob er seine mentale Form bewahren oder sich dem Rückfall in überwundene Vegetationen freudig hingeben sollte. Dieses Glacis der Unentschiedenheit bestand aus sandiger Erde, auf der einige mir unbekannte Distelpflanzen und kümmerliche Kakteen wucherten. Dazwischen aber gab es auch ein paar schüchterne grüne Flecke von echtem Gras und Unkraut. Dann ging’s etwa fünfzig Schritte eine ziemlich steile Böschung empor, die schon entschlossener grün war. Auf der Höhe dieser Böschung schnitt uns eine Brustwehr aus gewaltigen Steinquadern den Weg und die Welt ab, denn sie zog sich wie die Chinesische Mauer endlos nach beiden Richtungen hin. Dieser Brustwehr konnten sich Unbefugte nicht ohne weiteres nähern. In ziemlich weiten Abständen nämlich sahen wir Wachen stehen, deren Aufgabe es zweifellos war, den Zutritt zur Brustwehr zu verhindern. Diese Wachen waren nicht eigentlich bewaffnet; Waffen wurden ja vom Arbeiter nicht produziert, und wenn solche in großer Zahl hier und dort noch vorhanden waren, so entstammten sie, wie Io-Do’s interessante Sammlung, den Ausgrabungen, wie sie der Bau neuer Häuser notwendig machte. Die Wachen also, die breitbeinig dastanden und sich außerordentlich wichtig vorkamen, trugen in der Art mittelalterlicher Landsknechte oder wie die Schweizer Garde im Vatikan Lanzen in der Hand, von denen jedoch die Eisenspitzen oder Stoßblätter entfernt worden waren, so daß sie den langen Alpenstöcken glichen, wie sie die Bergsteiger meiner Jugendzeit benutzt hatten. An gewissen, weit auseinander liegenden Stellen waren in die Mauer breite viereckige Söller, das heißt vorspringende Plattformen eingebaut. Wenige Schritte vor meinen Augen drängte sich eine dichte Gruppe von Menschen auf einem dieser Söller. Ich erkannte Io-Do und den lieben Herrn Io-Solip, seinen Vater. Auch der Wortführer, der Hausweise und der Beständige Gast waren da. Vor den drei letztgenannten Junggesellen mit ihrer konventionellen aufklärerischen Intelligenz war mein Respekt nach meinen großen Erfahrungen im Djebel ein wenig gesunken. Von den Damen sah ich nur unsere jugendschöne Ahnfrau. Ich gestehe offen, daß ich enttäuscht war, Lala, die Braut, nicht vorzufinden. Wie ich aber hörte, war erst der heutige Abend von der Sitte dazu ausersehn, daß Braut und Bräutigam gemeinsam in der Öffentlichkeit sich zeigten. Die vielen anderen, die hier versammelt waren und erregt von den Söllerzinnen hinabstarrten, kannte ich nicht. Man machte mir Platz wie immer, mit höflicher Scheu. Jedermann schien über meine Herkunft und Konsistenz aufgeklärt zu sein. Ich aber blieb, als ich die Brustwehr erreicht hatte, festgewurzelt stehen. Was mich am Dschungel zuerst bewegte, ja beinahe erschütterte, war die Fernsicht dort, die blaue Ferne alter Zeiten, meiner Zeiten.
    Obwohl ich nicht mehr als vierundzwanzig Stunden in dieser Welt mich aufhielt, so hatte doch ihre Eingeebnetheit, ihre gegensatzlose Fläche, ihr unabsehbares Gleichmaß mich mehr bedrückt, als ich sagen kann. B. H. gegenüber hatte ich dann und wann eine Bemerkung gemacht, worauf er mich jedesmal mit der schlüssigen Erklärung tröstete, daß die mentale Verinnerlichung und Bereicherung des Menschen damit unlöslich zusammenhing, daß seine Erde äußerlich viel langweiliger geworden war. Seien, so fragte er, die für den Fremdenverkehr zurechtgemachten Gegenden des zwanzigsten Jahrhunderts im Vergleich zu den wandernden Gebirgen und brüllenden Vulkangruppen des Antediluviums nicht mindestens ebenso langweilig gewesen? Kultur sei in jeder Weise der Fortschritt vom grobfarbigen Spektakel zur zarten seelischen Differenzierung. Eines bedinge das

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