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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Schließlich standen wir in Dschungel-Bergstadt Aug in Aug einem General gegenüber und vernahmen seine Drohung, und es fiel das unaufgeklärte Wort »psychische Artillerie«. Das ist alles, und es gleicht einem Mosaikspiel, bei dem die Hälfte der Steine fehlt. Nun aber, da ich in der Halle der schiefen Ebene die Gelegenheit gehabt hätte, aus den schnellen und akzentlosen Reden der beiden Spiegeldeuter, rechts und links vom Weltregenten, mein Verständnis für die tieferen Ursachen des Geschehens zu erweitern, da flossen diese beiden duettierenden Stimmen zusammen wie schlecht aufgetragene Wasserfarben.
    Dazu kam noch der dritte Kahlkopf in der schwarzen Kutte des Staatsbeamten, der wie ein Schatten hinter dem Mondgeweihten stand, weshalb ich ihn jetzt, da ich seinen Titel nicht kennenlernte, »Mondschatten« taufe. Mondschatten trat dann und wann hervor und klopfte mit einem kleinen Hammer auf die weiße, dünne Säule, die einen hohlen und schaurigen Klang von sich gab, den ich nie vergessen werde. Dabei richtete er jedesmal mahnende Worte an den Geoarchonten, wie zum Beispiel:
    »Der Strom der Zeit verdoppelt sein Gefälle. Erdminuten sind nicht mehr Erdminuten.«
    Oder die folgenden Sätze, die ich unter meinen Notizen finde: »Ist der Bestand der Welt gefährdet, dann hüte der Mondgeweihte die Verfassung.« – »In einer orangeroten Flamme wird zu seiner Zeit der Mond verschwinden.« – »Die Verfassung gibt dem Mondgeweihten das Recht, entweder die Friedensstörer in der orangeroten Flamme verschwinden zu lassen oder sich selbst.« –
    Dies waren einige der Mahnungen Mondschattens, begleitet vom hohlen Gongton der einsamen Säule, die sich mir ins Gedächtnis gegraben haben. Die astromentale Gepflogenheit, einen Tatbestand zu offenbaren, indem man ihn durch bedeutungsschwere Worte verschleierte, erinnerte mehr an die eleusinischen oder an orientalische Mysterien als an das zwanzigste Jahrhundert mit seiner löblich bescheidenen Vorliebe für Präzision. Dennoch glaubte ich die Mahnungen voll zu verstehen. Daß sich das Tempo der Zeit in hochdramatischen Stunden des Weltgeschehens zu verdoppeln und zu verdreifachen scheint, das haben wir alle (meine Leser und ich) in unserer Epoche der Weltkriege nur gar zu oft erlebt. Da die Zeit mehr eine menschliche Hilfskategorie ist als der Raum, der viel eher unabhängig vom Bewußtsein besteht, so hatten die Chronosophen schon seit Urzeiten herausgefunden, daß die Zeit durchgehen kann wie ein scheuendes Pferd. Dieselben Chronosophen und wahrscheinlich besonders der große Ursler vor ihnen hatten ebenso längst schon das Weltenjahr und die Erdenstunde vorausberechnet, in welcher der Mond in orangeroter Flamme sein Dasein beenden wird. Den Hinweis auf diese Flamme, worin der Weltregent die Friedensstörer oder sich selbst verschwinden lassen möge, hielt ich nur für eine der bedeutungsschweren astromentalen Metaphern. Die Verfassung gab vermutlich dem Weltoberhaupt das Recht, gefährliche Rechtsbrecher verschwinden zu lassen, das heißt sie festzunehmen, zu betäuben, zu lähmen oder auf irgendeine weiche und hochkultivierte Art unschädlich zu machen. Wie sehr irrte ich mich da.
    Andere Gedanken aber bedrängten mich. Ich sah es deutlich, daß der Mondgeweihte nicht imstande war, eine Entscheidung zu treffen. Jetzt, im Augenblicke der Bedrohung, rächte sich jenes raffinierte Wahlrecht, welches die Macht dem Zarten, Weisen, Träumerischen anvertraute, der unter ihr litt und sie weder auszuüben noch zu genießen verstand. Ich weiß nicht, ob B. H. es war oder ich selbst, der das »Gesetz von der Erhaltung des Übels in der Welt« aufgestellt hatte. Das will sagen, wie sehr man die Dinge auch durcheinanderschüttelt und eines an die Stelle des andern setzt, ein bestimmtes Maß des Mißlingens läßt sich nicht vermindern. Die astromentale Verfassung, einer kühlen, unsinnlichen, spielerischen Menschheit und einer hochgestimmten, kosmisch orientierten Lebensordnung wohl angemessen, sie war ganz und gar untauglich, den blutigroten Leidenschaften einen Damm entgegenzusetzen, die plötzlich aus der Tiefe hervorgebrochen waren. Wer hatte geahnt, daß diese Leidenschaften überhaupt noch vorhanden waren? Da fiel ein archaischer Schuß mit Pulverdampf, die vornehmsten Bräute brannten nachts in den Dschungel durch, und die leere Zerstörungswut der Verschwörer bekam einen zulänglichen und beinahe würdigen Anlaß loszuschlagen. Der Mondgeweihte, lässig an seiner

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